Auszeit

von Konrad

Du schließt die Haustür hinter dem freundlichen alten Mann zu und atmest tief durch. Endlich allein. Du läufst durch die kleine Wohnung im Erdgeschoss. Hohe Räume, große Fenster, durch die das goldene Sonnenlicht scheint. Dielenboden, wo keine weichen Teppiche liegen. Holzmöbel, wenig Deko und wenn, dann an den passenden Stellen und geschmackvoll. Schlafzimmer, Bad, offene Küche zum Wohnzimmer. Du siehst durch die Fenster direkt in die Natur. Die Nachbarn sind nicht weit, aber doch so weit, dass du dich allein wähnen kannst. „Man bekommt hier nix voneinander mit, wenn man nicht will“, hat der Alte gesagt. Wiesen umgeben das kleine Haus, der Waldrand ist zu Fuß vielleicht fünf Minuten entfernt. Du öffnest die Terrassentür und hörst nur das Rauschen des Windes in den Bäumen und den Gesang der Vögel. Genau so hast du dir das vorgestellt. Abschalten, runterkommen, einen Gang zurück. Keine Hektik, keinen Stress. Davon hattest du in letzter Zeit mehr als genug. Bedenklich mehr. Deshalb hast du das kleine Haus für zwei Wochen gemietet. Du willst keinen Menschen sehen, außer vielleicht beim Einkaufen in der nächsten Stadt. „Mit dem Auto 20 Minuten“. Ansonsten willst du wandern und lesen und kochen und baden. Vielleicht auch mal wieder etwas schreiben, vielleicht sogar wieder etwas langes, gutes schreiben. Aber kein Stress, kein Druck, diese Zeit soll entschleunigen, keine neuen Projekte erschaffen. Das Mantra ist: Ausspannen, runterkommen, Zeit nur für dich.

Allerdings hast du nicht mit mir gerechnet. Natürlich nicht. Aber ich bin hier. Auch in diesem Haus mit den herrlich altmodischen Geranienkästen bin ich da. Du hast mich angelockt. Meine Zeit kommt, wenn es draußen anfängt zu dämmern, die Schatten länger und die Geräusche fremder werden. Ich stehe hinter der Gardine, lauere in dieser kleinen Vorratskammer in der Küche, wo es kein Licht gibt. Bereit, dich anzufassen, deinen Knöchel zu umschlingen, sanft deinen Hals zu berühren. Oder ihn grob zu umkrallen. Du fühlst mich, du spürst meine Anwesenheit, aber du erwischst mich nicht. Öffne die Tür, aber ich stehe hinter dir. Nimmst du die Gardine mit zitternden Fingern zur Seite, lauere ich unter dem Bett. Ich lasse die Dielen knarzen, klopfe in den Wänden. Ich bin die Schritte von oben. Oben, in dem alten Dachboden, wo nichts ist außer ein paar Resten vom Umbau. Hat der Alte gesagt. Aber du hörst mich dort oben, wie ich quälend langsam über die alten Bretter laufe und ein Bein nachziehe. Du hörst mich, gerade so, vielleicht auch nicht. Aber du weißt, dass ich hier bin. Ich lasse dich fühlen, wie allein du hier bist. Wie allein wir hier sind. Ich hole den Waldrand näher für dich. Dunkel, finster, unergründlich. Wer weiß, was dort lauert, was nur darauf wartet, hervorzukommen, verdorben und wild. Blutrünstig und auf der Suche nach dir. Und ich bin auch noch hier bei dir. War das wirklich nur ein Lufthauch, oder doch ich, wie ich dir mit kalten Fingern über die Wange gestrichen habe. So nah bin ich dir. Lauf nur schnell und mach alle Lichter an. Dadurch wird das Dunkel in den Ecken nur noch tiefer. Verheißungsvoller. Am Tag war es charmant, aber jetzt sehr schweißtreibend, dass dein Handy hier drin so schlechten Empfang hat. Draußen ist er sicher besser. Draußen, wo es schwarz ist. Wo ich direkt vor dir stehen kann, ohne dass du mich siehst. Immer ein Stück neben dem hektischen Strahl deiner Taschenlampe. Komm her! Bleib lieber wach, bleib lieber wachsam. Ich habe nur ein Versprechen für dich: In dem Moment, in dem deine Augen zufallen, bin ich da!