Yi

von Konrad

Yi hat ihre Beine fest um das Gestänge geschlungen. Sie hält sich mit aller Kraft so sicher wie möglich und ist nahe davor, einen Krampf zu bekommen. Vor sich blickt sie in den lichten Tunnel, den der Ausleger des Krans bildet. Rotes, dickes Gestänge, kalt von der Nacht und taufeucht vom heraufziehenden Morgen. Hinter ihr ist nichts mehr, Yi sitzt auf der Grenze zum Abgrund. Sie blickt nach unten. Hochhausdächer, verglaste Fensterfronten, Miniaturstraßen mit wenigen Autos, unzählige Lichter bis zum Horizont. Die Menschen, die um diese Zeit auf den Straßen unterwegs sind, kann sie von hier oben nicht mal ausmachen. Der wenige Lärm der erwachenden Metropole wird zu einem dumpfen Rauschen. Eine Alarmanlage heult weit entfernt. Immer wieder erfassen sie kalte Windböen. Dann beginnt der Kran, sich zu bewegen. Träge wie ein vollbeladenes Schiff schwankt er hin und her, auf- und abwärts. Sie spannt die Beinmuskeln noch etwas fester an. Ihre Hände sind damit beschäftigt, zum x-ten mal das glänzende, zylinderförmige Gerät in ihrer Hand zu überprüfen. Akku voll geladen, Zielkoordinaten korrekt und bestätigt, Lizenz zur freien Nutzung eingelesen und bestätigt. Der Beamer ist bereit. Eigentlich ist es die vorletzte Generation des LTARD, Lightweight Transportation and Relocation Device. Aber der von der Herstellerfirma propagierte Name „Elti“ hat sich nie wirklich durchgesetzt. Die Nutzer blieben bei der altmodischen Bezeichnung Beamer. Weil es genau das ist, was das Gerät tut. Mit der richtigen Lizenz und freigegebenen Zielkoordinaten kommt man auf Knopfdruck fast überall hin. Schließlich dreht sie die Kappe an der Spitze des Gerätes ab. Darunter liegt nur ein einzelner Knopf, der die gesamte Oberseite des Gerätes einnimmt. In den Auslöseknopf eingelassen ist eine einfache LED. Sie leuchtet grün. Yi umklammert ihren Beamer mit einer Hand. Mit der anderen hält sie sich an einer Querstrebe fest, als der Kran wieder etwas ins Schwanken gerät. Sie wartet ab, bis das metallische Knarzen und die Bewegungen wieder nachlassen. Unter ihr und ein gutes Stück vor ihr, auf der obersten Etage des im Bau befindlichen Wolkenkratzers sieht sie ihre Zukunft. Freundeskreis, Familie, Gang. Der Name ist ihr egal, der Zusammenhalt ist ihr wichtig, die Geborgenheit. Das kleine, wärmende Feuer im Eismeer. Sie sehen verloren aus, wie sie dort zwischen den Stahlträgern, Baumaterial und Maschinen am Rand des Gerüstes stehen. Sie sieht die dunklen Mützen und nimmt die Gesichter darunter als helle Ovale wahr. Außer das Gesicht von Pop natürlich, der dunkle Haut hat. Immer wieder glüht in einem Gesichtsoval ein winziger, oranger Punkt auf. Macy raucht. Oder Surenn, oder Crystal oder Dris. Eigentlich rauchen sie alle. Yi hätte jetzt auch gerne eine Zigarette, ist aber eigentlich zu nervös. Die von eben hat sie nach zwei Zügen in die Tiefe fallen lassen. Ausnahmesituation. Aufnahmesituation. Schon bald wird sie auch mit den anderen auf einem Dach stehen und zusehen, wie ein Rookie gegen ihre oder seine Angst ankämpft. Bald. Wenn alles klappt. Yi denkt an die Zahl aus dem Handbuch des Beamers: 600.000. Das ist die „Obergrenze für gleichzeitig durchführbare Relokationen“. Warum, hat sie schon wieder vergessen. Irgendwas mit kollabierenden Wellenfunktionen, Physikkram. 600.000 ist ziemlich wenig, weil der Wert für alle weltweit gilt. Beim 600.001 löst der Beamer nicht aus. Pech gehabt. Ein kleines Problem, wenn man nur nach seiner Schicht nach Hause möchte. Ein großes Problem, wenn man sich gerade im freien Fall befindet. Jeder Beam dauert nur eine Sekunde. Dann ist die Kapazität wieder frei für einen anderen. Es kommt also darauf an, wie schnell und wie oft man den Knopf drückt und wie ausgelastet das Netz ist. Irgendwann ist ihr Beam dran, es muss nur ausreichend Zeit sein. Sie hat nur ungefähr zehn Sekunden. Besser keine Wahrscheinlichkeitsrechnung, nicht jetzt. Nicht an die Rushhour irgend eines Kontinents denken, oder an Massenswarmings. Das hier ist die alles entscheidende Prüfung. „Ob du drin bist oder draußen, baby“, so hat Macy es zusammengefasst. Wenn es gut ausgeht, steht sie gleich unten bei den anderen und wird versuchen möglichst cool zu tun: „War doch klar, dass ich ne gute Phase catche…“ Wenn nicht, ist sie auch gleich unten und braucht sich im Coolness nicht mehr zu kümmern. So wie An vor ein paar Wochen. An, mit den braunen Locken, den großen Augen und dem Notizbuch mit den vielen unvollendeten Geschichten im Rucksack. Von ihm ist wenig größeres übrig geblieben als der antiquierte Stift, mit dem er immer schrieb. Yi versucht die Gedanken an die große, klumpige Lache zu vertreiben. Vorallem an das Büschel Haare, das im… nein, später. Ein Check noch. Immer noch alles OK. Sie umklammert den Beamer mit beiden Händen, legt den Daumen auf den Auslöser. Sie atmet tief ein. Eine der Gestalten winkt vom Dach aus zu ihr herüber. Blutgetränkte, braune Locken. Plötzlich wird ihr Kopf ganz leicht. Alles innerhalb ihres Schädels scheint zu schweben, die Sicht verschwimmt, die Ohren rauschen, keine Gedanken mehr. Sie löst die Beine und bemerkt, wie sie sofort nach hinten überkippt, Bauch und Brust ziehen sich zusammen, der Wind heult plötzlich wie ein Sturm, das Gebäude schießt immer schneller an ihr vorbei nach oben. Hektisch beginnt sie, auf den Auslöser zu drücken. Klick Klick Klick Klick