I/O

von Steffen

Ein sanftes Vibrieren im Handgelenk weckt ihn aus traumlosem Schlaf. Zwei Minuten früher als gestern, der Ablauf wurde wieder optimiert. Wie in Zeitlupe und noch halb betäubt löst er sich aus der polymerharten Z-Form. Sofort reibt und massiert er die Dermalkontakte an seinem Rücken. Er hasst das ewige Jucken, die ständig wieder aufflammenden Entzündungen. Im anderen Raum der Wohneinheit verraten ein karibischer Sonnenaufgang und im Wind wiegende Palmen im flimmernden Display-Fenster dass heute Mittwoch ist und Sommer. Er kaut zwei antibiotische Cracker zusammen mit der Startup Pille und spült mit destilliertem Wasser nach. Obwohl er sicher ist dass er seit langem immun gegen den Wirkstoff ist, ist da immer der Horror der Abstoßung, der venalen Korrosion und des langsamen Verblutens durch die Poren der Haut.

Außerdem will er sich keinesfalls mit einem gehorteten Cracker-Vorrat erwischen lassen. Sozialsabotage, automatisch bestraft mit fünf Jahren Ehrendienst in den äußeren Kolonien. Er weiß, dass sein erneuter Aufenthalt dort den sicheren Tod bedeuten würde. Vermutlich würde sein Körper nicht einmal den Transfer, die Kälte und die Entbehrungen des Vakuums überstehen. Er schlüpft in die beengte Uniform, rückt die Reihe bunter Orden zurecht. Im Etagenflur zitronengelber Kunststoff und feiner Desinfektionsnebel aus unsichtbaren Zerstäubern. Sanfte Beleuchtung und geflüsterte Durchsagen von sanften, jungen, gesunden Stimmen. Ankündigungen, neue Verordnungen, der Wetterbericht und dazwischen periodisch und mechanisch die zufallsgenerierten Zahlenreihen der über Nacht Desynchronisierten.

Sechsundsiebzig Stockwerke weiter unten entlässt ihn eine hissende Luftschleuse in den heraufdämmernden Tag. Zaghaft nimmt er einen ersten Atemzug und beobachtet dabei die Innenseite seines Handgelenks. Die bioilluminierte Fläche zeigt zwei hellgrüne Striche unter seiner Haut. Er fühlt nach dem kleinen Regler hinter dem rechten Ohr und dreht daran bis die Anzeige erlischt. Sollte sich das Wetter nicht merklich verschlechtern würde der Nasenfilter auch für den Heimweg reichen. Er beschließt kurz innezuhalten um die ungewohnt klare Sicht auszunutzen. Links und rechts recken sich die fensterlosen Türme der Synchronisanten-Siedlung in den ascheverhangenen Himmel. Weit entfernt im Osten ein Schleier aus dumpfem rötlichen Licht.

Für einen Moment versucht er das Bild mit Hilfe des optischen Implantats zu verbessern, ohne jedoch zu erkennen ob die Röte von der aufgehenden Sonne oder einem der Verweigerer-Öfen ausgeht, die seit zwei Jahren fast ohne Unterlass glühen. Plötzlich ist er seit langer Zeit wieder da, der Gedanke an seine Frau. Er spürt den Strom der Menschen aus dem Gebäude breiter werden. Sie weichen ihm aus ohne ihn weiter zu beachten, einige schielen im Vorübergehen hinüber. Mit lähmender Wucht durchfluten ihn die Bilder. Ihr hartes Gesicht am Tag der Entscheidung. Sein Betteln und Flehen, ihre unnachgiebige Weigerung. Die grausame Nacht des Abschieds, als sie den Jungen mit sich nahm. Vielleicht, denkt er, sind sie die Quelle dieses Lichts.

Jemand streift ihn an der Schulter. Er wendet sich ab, betätigt rasch einen Druckpunkt in der Kniekehle und reiht sich in die gesichtslose Menge ein. Das Hormon flutet sofort an, doch trotzdem hasst er den Moment der Eingliederung zutiefst. Das Gefühl aus dem eigenen Körper zu treten, gleichzeitig neben, vor und hinter sich selbst zu stehen. Ein seelenloser Schatten, ein ehemaliger Mensch. Der Weg zur Station, gebettet in die Masse, vergeht wie im Traum. Dann Blitze hinter den Augen beim Gang durch den Turing-Scanner, eiskalte Klingen schießen seine Wirbelsäule hinauf in den Stamm des Hirns, laden unterwegs die Implantate auf. Sanfte Anschläge eines Klaviers, Geigen, ein Chor so süß wie der vergessene Geschmack von Honig. Kommt die Musik aus geschickt versteckten Lautsprechern oder spielt sie bloß in seinem pochenden Kopf? Er weiß dass die Scans niemals aufhören zu schmerzen.

Am schlimmsten aber sind die Bugs und fehlerhaften Updates. Eines Morgens fand er sich von der Hüfte ab gelähmt, ohne Kontrolle über Blase und Darm. Ein anderes Update schaltete sein Schmerzempfinden aus, so dass er sich durch das ständige Kratzen an den Gelenken blutige Wunden zufügte. Ganz anders ist es für die Kinder, die es nicht anders kennen. Die ganz selbstverständlich und stumm wie Fische mit ihren Implantaten kommunizieren, spielen und lachen. Perfekt synchronisiert, ohne jeden Zweifel und ohne das Gesicht vor Schmerzen zu verziehen. Für einen Moment ertappt er sich dabei wie er sie dafür beneidet.

Während der Erholungsphase auf der gummierten Rampe versucht er sich zu konzentrieren. Auf das was er war – auf seinen wahren Kern. Auf dem Weg ins gähnende Maul des klinisch sauberen E-Bahnschachts sucht er nach den alten Gefühlen. Was er findet wird mit jedem Tag und nach jedem Scan weniger. Das Haus seiner Kindheit, das Gesicht der Mutter, wie sahen sie noch aus? Der unbeschwerte Sommer am Meer, wie schmeckte das Salz auf seinen Lippen? Erinnerungen werden zu Schattenrissen bevor sie hinter einer ganz unmerklich zunehmenden Unschärfe vollends verschwinden. Mitleidslos umschließt die Neue Zeit die Freuden und Ängste eines Lebens, das ihm selbst längst fremd geworden ist. Mit einer Mischung aus Verzweiflung und Gleichgültigkeit starrt er auf den makellos frisierten Hinterkopf der jungen Frau vor ihm und fragt sich, wie so oft, ob es nur ihm so geht.

Der letzte Sicherheitscheck des Morgens wartet hinter der Luftschleuse eines Gebäudes, das von einem grob gestanzten stählernen Wappen zweier verschiedener Hände gekrönt wird. An einem freien Terminal im Eingangsbereich identifiziert er fünf zufallsgenerierten Bilder von Tieren und Pflanzen, die längst nur noch als digitale Echos einer verlorenen Welt existieren. Gegen den Juckreiz an den Gelenken ankämpfend zieht er die Plastikkarte aus dem Schlitz des Terminals und presst den Barcode gegen seinen Unterarm bis dort ein grüner Kreis erscheint. Vorbei an stummen Wachposten mit fremdartigen Waffen schreitet er durch die sterilen, wortlosen Hallen des Komplexes. Er stoppt schließlich vor einer stählernen Tür neben der ein diskretes Bedienfeld mit der Aufschrift “I/O” angebracht ist. Kurz schließt er die Augen, kämpft gegen die Verkrampfung seiner Magenmuskulatur und den aufflammenden Fluchtinstinkt an.

Mit einem schnellen Griff hinters Ohr deaktiviert er den Nasenfilter, atmet tief ein und tippt eine lange Reihe von Zahlen in die Tasten. Sein Blick findet das Auge der Kamera über der Tür, die mit leisem Summen zur Seite gleitet. Der Raum dahinter ist klein und fensterlos, erhellt von einer einzigen Leuchtstoffröhre. An der Längsseite befindet sich keine Wand sondern eine Scheibe aus massivem Panzerglas mit eingelassener Gegensprechanlage, dahinter tiefe Dunkelheit wie zähe Tinte. Vor der Scheibe steht fest im Boden verschraubt das längst vertraute und tief gehasste Bedienpult. Zwei simple Knöpfe: Grün und rot, In und Out.

Er tritt ans Pult, schließt die Augen und wartet auf den Beginn seiner Schicht. Kurz darauf schneiden mächtige Industriestrahler die Konturen einer überdimensionalen Halle aus den Schatten jenseits der Scheibe. Mit einem Ruck setzt sich die endlose Schlange der Transportbänder in Bewegung, kriecht quälend langsam durch ein Labyrinth aus funkelndem Stacheldraht und den böse starrenden Sensoren der Selbstschussanlagen. Aus dem Zwielicht am anderen Ende der Halle schälen sich menschliche Formen und ängstliche Gesichter. Mit versteinertem Gesicht aktiviert er die Gegensprechanlage und hofft mit allem was von ihm geblieben ist seine Frau und seinen Sohn nie wieder zu sehen.