Neopenthes

von Konrad

Karlsgartenstraße 3. Peter schreckt schweißgebadet auf, plötzlich weiß er, dass er jetzt los muss. Sofort. Er knipst die Nachtischlampe an, reißt sich die Bettdecke von den Beinen und springt auf. Noch in der Drehung vom Bett herunter angelt er nach seiner Hose auf dem Stuhl neben sich. „Was ist los?“, fragt eine müde Stimme von der linken Seite des Bettes. „Nichts, schlaf weiter! „, raunzt Peter zurück. Hastig zieht er sich ein paar Socken an. Er registriert, dass die Farben nicht zusammenpassen, ist aber schon damit beschäftigt, einen Pulli aus dem Haufen zu zerren. „Du willst weg? Ist was passiert?“ Die Stimme von der anderen Seite ist jetzt deutlich wacher. Alarmierter. Natürlich muss sie ihn gerade jetzt nerven. Sabine, die sich im letzten Jahr einen Scheiß um ihn und ihre Ehe gekümmert hat. Sabine, die immer weiter auseinander geht. Sabine, die jeden Tag “heimlich” Baileys in der Küche säuft. Anziehung ist schon lange nicht mehr da. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verlässt er das Schlafzimmer, schlüpft in die Schuhe, packt den Schlüssel vom Brett und ist schon an der Wohnungstür, als er sie hinter sich hört: „Wo willst du jetzt hin, es ist drei Uhr nachts.“ Er nimmt die Kette von der Tür, schließt auf. „Peter, rede mit mir, ich mache mir Sorgen, was ist denn los?“ Er eilt ins Treppenhaus, nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Er hört, wie sie die Wohnungstür öffnet, ihm irgend etwas nachruft, aber er versucht nicht, es nur zu verstehen. Er muss jetzt los. Er hätte heute Mittag schon gehen sollen, als er das erste Mal in der Karli war. Aber er war abgelenkt, Termine, Job, das Scheißgeld. Und so war er einfach an der Tür vorbei gegangen. Hatte nur einen leichten Geruch wahrgenommen. Süß, verheißungsvoll. Sein Handy hatte geklingelt und er war weiter geeilt. Idiotisch. Aber jetzt sieht er klar und deutlich das Haus vor sich. Dort bekommt er, wonach er sich sehnt. Ganz heimlich sehnt. Das weiß er einfach, auch wenn er keine Ahnung hat, was genau ihn erwartet. Also keine Zeit mehr verlieren, starten und um Gottes Willen beeilen. Wenn nur nicht schon alles vorbei ist, bis er da ist. Verschlossene Türen und er, Peter, der Trottel, der zu spät kam. Er fängt an zu laufen, zu joggen. Die nächtlichen Straßen liegen ruhig, bis auf wenige Leute, verlassen. Peter legt noch an Tempo zu. Außer Atem kommt er an der unbeleuchteten S-Bahn Station an. Natürlich geschlossen, es ist mitten in der Nacht. Sein Ziel waren auch eher die schmuddeligen, cremefarbenen Wagen, die hier immer stehen. Er reißt die Tür des ersten Taxis auf, springt auf den Beifahrersitz. Der Fahrer, der offensichtlich gedöst hat, schreckt zusammen, fasst sich aber schnell. Peter nennt die Adresse, zu der es ihn zieht. „So schnell, wie du kannst, ich habs sehr eilig!„ Der Wagen setzt sich leise summend in Bewegung. Zehn Minuten voll zappeliger Beine und fingertrommeln auf dem Handschuhfachdeckel später sind sie da. Peter wirft dem Fahrer einfach sein Portemonnaie zu, verlässt sofort das Taxi, lässt die Tür offen. Kurz denkt er an all seine Karten und die Scheine seinem Geldbeutel. Aber davon will er sich nicht aufhalten lassen. Dieses mal nicht. Er joggt wieder. Nummer 19, 17, 15… Dann endlich steht er, schnaufend und geschwitzt, vor der 3. Zugenagelte Fenster, Müll, Graffitti. Aber dieser Geruch ist da. Er zwängt sich durch ein Loch im verbogenen Bauzaun, der das Haus abschirmen soll. Er befürchtet schon, keinen Eingan zu finden. Aber die schwere Holztür ist offen. Peter geht durch den unbeleuchteten, vermüllten Flur. Seine Schritte hallen laut in der Stille. Zielstrebig läuft er weiter, bis zum Ende und aus der Tür in den Hinterhof. Er eilt an stinkendem Unrat vorbei, die Treppe am Ende des Hofes herunter. Er rutscht auf den Stufen aus, kann sich fangen, fasst in etwas glitschiges, felliges. Dann sieht er die Tür. Eine unscheinbare, graue Metalltür. Er öffnet sie. Kurz glaubt er, falsch zu sein. Kurz sieht es so aus, als blicke er in einen kleinen, unbeleuchteten Kellerraum. Aber dann liegt wieder die Süße in der Luft, spannend und irgendwie geheimnisvoll. Er atmet tief ein. Schwer legt sich der Geruch auf seine Lungen, sein Denken. Befreit ihn, lässt ihn endlich klar sehen, kühl analysieren. Entschlossen tritt er in den Raum und bemerkt seinen Irrtum. Natürlich ist der Raum keineswegs leer, er hatte nur nicht um die Ecke sehen können. Der Raum setzt sich nach rechts fort, weitet sich und dort pulsiert das Leben. Junge Frauen und Männer tanzen zu einem tiefen, wummernden Beat. Perfekt platzierte Scheinwerfer bringen die Underground-Party in eine unwirkliche Stimmung. Er lässt einen Moment seinen Blick schweifen, jetzt hat er es nicht mehr eilig. Er ist angekommen. Er sieht auf die verschwitzten Körper. Eigentlich tanzen dort viel mehr Männer als Frauen. Fast nur Männer. Plötzlich ist er unsicher, fragt sich, was die anderen sagen werden. Ob ihn jemand erkennt. Als er gerade einen Schritt rückwärts macht, löst sich eine Gestalt aus der Menge und kommt auf ihn zu. Dunkle Haare, gebräunte Haut. Er weiß, wie seine muskulösen Arme und der Waschbrettbauch wirken. Andernfalls hätte er nicht auf ein Hemd verzichtet. Seine Augen sind sehr hell, fangen Peters Blick ein, lassen ihn nicht mehr los. „Na, Hase, zum ersten Mal hier?“ Seine Stimme übertönt mühelos den Bass. Dunkel und wohlklingend. Eine Stimme, die beruhigt, besänftigt. Und mehr verspricht. Peter ist viel zu perplex, um zu antworten. Fassungslos und verwirrt darüber, wie anziehend er den jungen Typen findet. Nie hat er… aber neugierig war er schon… und jetzt steht er hier und betrachtet Bartstoppeln und Muskeln seines Gegenübers. Das lächelt, helle Zähne schimmern Peter entgegen. Nur ein Eckzahn ist eine Nuance dunkler. „Ich bin Julio“. Er steht jetzt direkt neben ihm, legt ihm einen Arm um den Hals und hält plötzlich, wie aus dem Nichts, einen Joint in der Hand, den er Peter an den Mund führt. „Mach dich locker“, hört er seine Stimme an seinem Ohr. Er spürt den Atem des Anderen warm an seiner Haut und bemerkt, wie das eine Gänsehaut verursacht. Er zieht am Joint. Bitter regt sich der Rauch in seinem Mund, in den Lungen. Seine Knie werden weich. Die Scheinwerfer sind auf einmal etwas heller, pulsieren. Sie ziehen eine Spur aus Licht hinter sich her, wenn er die Augen darübergleiten lässt. Der Bass wummert und bewegt sich in ihm, mit ihm. Die Musik berührt ihn so, dass er fast Tränen in den Augen hat. Der Rest Spannung fällt von ihm ab. Hier ist er sicher. „Na siehst du“, sagt Julio. Peter zieht ihn an sich und sieht sich selbst dabei zu. Er will plötzlich diesen Mann. Alles andere ist vergessen. Er will ihn riechen, schmecken, spüren. Er will die Zunge an seiner Zunge und die Hand auf seinem Arsch und er will, dass der Typ, Julio, seinen Schwanz nimmt und dann… Er versucht ihn zu küssen, doch Julio legt ihm eine Hand auf die Brust, was eine neue Welle von Geilheit auslöst „Nicht hier“, flüstert er. Du bist doch nicht so eine aufmerksamkeitsgeile bitch, oder? Komm mit, ich kenne hier eine ruhigere Ecke.„ Irgendwie sind sie an den Tanzenden vorbei, am anderen Ende des Raumes. Julio bleibt an einem Loch stehen, das hier in die Wand geschlagen ist. Die Steine an den Rändern bilden eckige Kanten. Teile der entfernten Steine liegen noch um das Loch herum. Julio kniet sich davor, lächelt Peter entschuldigend zu. „Sorry, der Eingang ist ein bißchen eng, aber ich mag das ganz gerne so.“ Zwinkern. Dann, ohne eine Reaktion abzuwarten, kriecht er in das Loch hinein. Der Gang dahinter ist eng, Peter passt kriechend gerade so hindurch. Er riecht Julios Geruch, süß und lockend, obwohl er ihn in der Dunkelheit kaum noch sehen kann. An den Wänden des Ganges winden sich dicke Stränge, wie Wurzeln. Sie verlaufen alle mehr oder weniger in die Richtung, in die er kriecht. Der Gang wird enger und er muss sich kräftig an den harten Strängen vorbei drücken. Aber Julio ist immerhin auch hier durch gekommen. Gerade als er sich fragt, wie lang der Gang eigentlich schon ist und dass es hoffentlich einen anderen Ausgang gibt, hört er wieder Julios Stimme:“ Hey Hase, ich bin schon ausgezogen und warte nur auf dich! „ Peter spürt einen Kloß im Hals und seinen härter werdenden Schwanz. Seine Stimme war ganz nah, der Raum muss direkt hinter der nächsten Biegung sein. Und Julio liegt da, allein, Prachtkörper geil und wartet nur auf ihn. Mit aller Kraft drückt er sich weiter, durch die Wurzeln, durch die seltsamen Stränge und versucht, so viel Kraft wie möglich auf den glitschiger werdenden Boden aufzubauen. Der Gang wird immer enger, Peter stöhnt vor Anstrengung. Dann bleibt er stecken. Es ist zu eng, mit aller Kraft kann er kein bißchen mehr weiter kommen. „Julio?“ Keine Antwort. „JUUULIIOO!“ Stille. Langsam bahnt sich Angst ihren Weg. Keine Stimmen, keine Musik. Peter hört nichts als seinen eigenen Atem und das leise Tröpfeln, das in dem Gang eingesetzt hat. Die Dunkelheit ist fast vollkommen. Er versucht es rückwärts. Die Stränge, Wurzeln oder was immer der Scheiß ist, halten ihn gefangen wie in einer Reuse. Die Panik überrollt ihn wie eine kalte Welle. Das Gefühl, hier völlig allein zu sein, wird zu schneidend kühler Gewissheit. Wo ist er hier hineingeraten, mitten in der Nacht in einem Abbruchhaus. Er schreit, versucht sich zu drehen und verkeilt sich immer tiefer. Er will nur noch hier raus, jede Faser seines Körpers will flüchten. Er schreit, zappelt, schreit noch lauter, klagt und fleht. Und kommt keinen Millimeter von seiner Position weg. Verkeilt, eingeklemmt, gefangen, Verdammnis. Die Tropfen an der schmierigen Tunnelwand werden dickflüssiger und brennen heiße Löcher dort, wo sie auf Haut, Haare oder Lippen treffen. In leichten Wellenbewegungen wird der Gang immer enger, presst ihn dichter an die brennende Säure. Die harten Stränge reiben seine Haut auf, pressen den Brustkorb zusammen. Panische Schreie verhallen in dem völlig verlassenen, dunklen Keller, zurückgehalten von der dicken Metalltür.

Der Organismus, in dessen Freßtrakt Peter verkeilt ist, hat eine Größe von fast einem Häuserblock. Er kann sich gut verbergen, hat viele Eingänge und öffnet instinktiv immer einen anderen. Er ist primitiv, denkt und fühlt nicht. Kein Gehirn, keinen Plan, kein Mitleid, stumpfsinnige Selbsterhaltung. Wenn Nährstoffe fehlen, verbreitet er ein Neurotoxin aus einer seiner unzähligen Drüsen. Die Beute kommt. Immer. Euphorisiert, blind, den eigenen Gedanken machtlos verfallen, kriecht sie freudig mitten in ihre eigene Hölle. Und wird nach vielen Stunden des Schreiens endlich ein Teil von Neopenthes.