Noah

von Konrad

Er braucht sie nicht zu suchen. Er findet sie. Möglichkeiten, poröse Stellen, Durchgänge. Dann schlägt er zu.

Noah legt seine Kleidung auf die Bank vor den Spinden. Er betritt den Duschraum. Das Klima ist erdrückend. Die Luftfeuchtigkeit und Temperatur sind ähnlich wie die in einer Aufgusssauna. Es riecht nach fruchtigem Duschgel, Körperlotion und Haarspray. Die Melange einer kürzlich verlassenen Mädchendusche. Jetzt ist er allein. Noah lächelt ein dünnes Lächeln. Wieder einmal hat sein, zugegeben wirklich simpler, Plan funktioniert. Nach den vielen Erniedrigungen im Sportunterricht, von seinen Mitschülern ebenso wie von seinem Lehrer, liebt er die Einsamkeit um so mehr. Nachdem also die Bälle, Reckstangen oder ähnlichen Folterinstrumente in der Kammer verstaut sind, muss er eigentlich nur darauf achten, die Halle möglichst spät zu verlassen, sodass die anderen schon nach oben gegangen sind. Dann vor der Treppe links in den Putzraum. Die Tür war bisher immer offen und das Licht funktioniert nicht. Zwischen den muffigen Lappen und dem Desinfektionsmittel kann er in Ruhe warten, bis alle gegangen sind und die Halle verschlossen ist. Niemand hat je hier hereingeschaut, wenn er zusammengekauert im Dunkel abwartete. Später kann er durch den Notausgang, der hinter ihm einfach ins Schloss fällt, verschwinden. So lange hat er Zeit für sich. Da die Halle erst zur fünften Stunde wieder benutzt wird, ist das eine ganze Menge. Eine Menge Zeit, in der ihn niemand mit seinen Pickeln, seinem zu dicken Bauch oder dem Feuermal in seinem Gesicht aufzieht. Er dreht den Hahn der Dusche auf, testet die Temperatur mit der Hand und stellt sich dann unter den satten, warmen Strahl. Er lässt das Wasser lang einfach nur an sich herunterlaufen. Von dem Grauen, das sich über ihm zusammenbraut, bemerkt er nichts. Er spürt nichts als die Wärme und verliert sich im gleichmäßigen Rauschen. So kann er sich am besten verlieren. Die Gedanken kommen und gehen lassen, an alles und nichts denken. Meistens aber denkt er doch an Luisa. Die Volleyball-AG der Mädchen trainiert zur selben Zeit. Da hat er sie wieder kurz gesehen, das hat seine Gedanken befeuert. Wieder einmal. Braune Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, energisch, engagiert, powerfull. Sie ist 2 Klassen über ihm. Vom Aus- und Ansehen eher 173 Klassen. Nie würde er sich trauen, sie auch nur anzusprechen. Allein ihr erhitztes, gerötetes Gesicht mit den dunklen, stets aufmerksamen Augen versetzen ihn immer direkt in sprachlose Aufregung. Der knappe Volleyballdress betont ihre Rundungen. Oft kommen sie ihm unvermittelt in den Sinn: Ihre sportlichen Brüste, ihr flacher Bauch, ihr runder Hintern. Alles hauteng abgezeichnet. Sie trainiert sicher viel, bewegt sich kraftvoll und geschmeidig. Das Atmen fällt ihm schwerer. Noah denkt an einen Schweißtropfen, der sich von seinem Platz löst und zwischen ihre Brüste rinnt. Er denkt an ihre verschwitzen Sportklamotten. Wie sie ihre feuchte Kleidung (auch den Slip, sie trägt sicher ein sehr knappes, helles Höschen mit Spitze, denkt er) nach dem Sport ablegt, um unter die Dusche zu gehen. Vielleicht stand sie eben noch genau hier. Nackt. Hat sich mit Pfirsich-Kokos Duschgel eingeseift, während sie mit ihren Freundinnen sprach. Immer noch umströmt vom heißen Wasser beginnt er zu wichsen. Das kratzende Geräusch bemerkt er nicht. Seine Gedanken, werden hektischer, aufgegeilter. Sein ganzes Denken ist auf Luisa fokussiert, die sich, komplett nackt, in seiner Fantasie auf seinem Bett räkelt. Und natürlich nichts anderes will als ihn, Noah. Als sie seine Hand nimmt und sie ihren Bauch immer weiter nach unten wandern lässt, dahin, wo es warm und bestimmt feucht ist, spritzt Noah stöhnend seine Ladung gegen die Wand der Turnhallendusche. Unter heftigem Atmen öffnet er die Augen. Schlagartig zuckt er zusammen. Jetzt hat er etwas gehört. Ein Kratzen? Nackt und nass, immer noch mit seinem schlaff werdenden Pimmel in der Hand, fürchtet er, das doch noch jemand mit ihm in der Halle ist. Doch im Duscheneingang steht niemand. Keine hämisch grinsenden Gesichter und gezückte Handykameras. Vorallem keine angewidert blickende Luisa. Erleichterung. Aber das Kratzen bleibt. Wird noch lauter und scheint ganz nah zu sein. Er dreht sich um, steht mit dem Rücken zur Wand und blickt sich hektisch in der komplett leeren Dusche um. Als letztes wandert sein Blick ganz langsam nach oben zu den stockfleckigen Deckenplatten der Dusche. Ein einzelner, schwarzer Käfer krabbelt dort. Sonst ist nichts weiter zu sehen. Aber das Kratzen, das jetzt immer lauter wird, kommt ganz klar von dort oben. Gerade als er beschlossen hat, doch lieber abzuhauen, brechen die Deckenplatten ein. Ein paar Platten über dem Eingang zur Dusche krachen einfach so in der Mitte zusammen und stürzen polternd auf den Boden. Noah stößt einen quietschenden Schrei aus und presst sich fester an die Wand. Die Platten waren weit entfernt und stellen keine Gefahr für ihn dar. Was ihn die Augen aufreißen und erstarren lässt ist das, was aus den Löchern in der Decke kommt. Käfer, Tausendfüßler, Asseln, Schaben. Sie fallen auf den Boden, wimmeln und winden sich, kriechen mit unzähligen Beinen, Klauen, Kiefern auf den Kacheln herum. Nur wenige Meter von seinen ungeschützten Füßen entfernt. Unfassbar viel Ungeziefer ergießt sich in die Dusche. Mehr, als unter den Platten überhaupt sein können. Nach wenigen Sekunden türmen sich die Viecher knöchelhoch. Und der dunkle Wasserfall aus der Decke reisst nicht ab. Dann, wie auf ein Signal hin, kriechen sie auf Noah zu. Alle gleichzeitig. Wie wogende Brandung schiebt sich das braunschwarze Wimmeln in seine Richtung. Als es ihn erreicht, ist er nahezu sofort bis zu den Knien bedeckt. Sie beißen. Tausende kleine Schmerzherde, wo kleine Kiefer, Zähne, Stacheln, Zangen sich in sein Fleisch graben. Jedes für sich nur ein kleiner Schmerz. Alles zusammen wie ein Bad in Säure. Noah schreit jetzt richtig. Panisch versucht er, sie weg zu wischen. Sofort kriecht die dunkle Woge an seinen Händen, an seinen Armen hoch. Der Schmerz flammt immer neu und stärker auf, Noah wird immer panischer. Er wischt über Arme und Beine, sieht zerquetschte Chitinpanzer, grünlichen Schleim und sein eigenes Blut. Er reisst ein Bein nach oben, rutscht auf der Schmiere zertretener Insekten aus. Und fällt. Gebettet auf gequetschtem, schleimigem, stückigem Insektenstampf. Im Bruchteil einer Sekunde ist er bedeckt. Sie beißen immer weiter. In die Augenlider, die Pofalte, die Achseln. Und überall sonst auch. Rasend und tobend versuchen sie Fleisch aus dem weichen Körper zu reißen. Mit Mäulern, die dazu eigentlich nicht gemacht sind. Blutrausch. Sie kriechen in die Nasenlöcher, in den Mund. Er versucht, sie auszuspucken. Zerbeißt sie. Ekelerregend bitterer Schleim läuft ihm in Mund und Hals. Gleich wird er kotzen müssen. Er verschluckt sich, hustet, würgt. Die Insekten krabbeln unnachgiebig weiter, kriechen in den Mund, in den Hals, in die Luftröhre, verkeilen sich, zerquetschen, verstopfen die Atemwege. Sie beißen weiter, reißen das weiße Fleisch auch noch dann, als sein Zappeln, das Röcheln und Wimmern aufgehört haben.

Auf der anderen Seite des Duschraumes führen perfekt manikürte Hände ein kaltes, von kondensiertem Wasser betautes, dünnes Glas nach oben. Vorbei am Sakko eines edlen, dunkelblauen Anzuges, einem makellos weißem Hemd, perfekt rasierten Wangen. Lippen nehmen bedächtige Schlucke eiskaltes Wasser. Hellblaue Augen schauen auf den wogenden, Haufen Raserei in der Ecke. Perfekt glänzende, braune Lederschuhe treten den Weg in Richtung Ausgang an. Die Insekten weichen zurück. Bilden ein Loch im wimmelnden Teppich, gerade groß genug, dass nicht das kleinste Beinchen einen Schuh oder die Hose berührt. Die Schritte verhallen.