Parasit

von Konrad

Nach den Viren kamen die Parasiten. Ich bin wahrscheinlich einer der letzten, der sich diese Widerwärtigkeit noch nicht eingefangen hat. Aber ich muss zugeben, dass es sehr knapp war. Fast hätten sie mich auch erwischt. Noch bevor alles so groß wurde.

Damals, es kommt mir wie Jahre vor, dabei sind es erst ein paar Wochen, war ich wieder im Waldsee schwimmen. Der See ist einsam und ruhig. Er bildet eine kleine Lichtung zwischen hohen Bäumen. Die Schatten der großen Baumkronen überdecken weite Teile des kleinen Sees. Erreichen kann man ihn nur über schmale, hier und da von Brombeerhecken und jungen Bäumen überwucherte Pfade. Der See hat kein richtiges Ufer. Vielmehr geht der Waldboden in Morast und dann in Wasser über. Ich sank bis zu den Schienbeinen ein. Wenn ich im Wasser war und die ersten zwei Schwimmzüge machte, berührten mich Algen und Wasserpflanzen an Bauch und Beinen. Eine gute Gelegenheit für die Phantasie, sich auf dunkle Pfade voller glitschiger Körper und kleiner, spitzer Zähne zu verirren. Doch alles das nahm ich gerne in Kauf, um dann in dem dunkelgrünen, kühlen Wasser zu treiben. Die Ohren unter Wasser, die Augen auf die Bäume und die sich bewegenden Blätter gerichtet, konnte ich mich sehr lange einfach treiben lassen und die Welt und mein Leben und ein bisschen auch mich selbst vergessen. Ich liebte die Einsamkeit, die Ruhe, das Alleinsein. Auftanken, Krach und Hektik aussperren. An jenem Tag also ließ ich mich wieder treiben, Arme und Beine weit vom Körper gestreckt, als ich plötzlich ein leichtes Kitzeln am Hintern spürte. Dann durchfuhr mich ein kleiner, starker Schmerz. So, als hätte mir jemand die Kante eines Papierblattes mit hoher Geschwindigkeit genau durchs Arschloch gezogen. Horror, Schreck, Panik. Ich hörte immer wieder das Echo meiner eigenen Schreckensschreie, während ich wie wahnsinnig geworden das dunkle Wasser zu weißem Schaum zerpflügte. Am Ufer angekommen, nass, matschig, zitternd, adrenalingepeitscht, riss ich die Badehose nach unten, ging in die Hocke und betastete meinen Arsch ausgiebig. Meine Panik steigerte sich extrem, als ich dachte dort etwas zu fühlen, was nicht da hingehört. Etwas drahtiges, fremdes. Aber da hatte mir mein eigenes Hirn wohl einen echt beschissenen Streich gespielt. Nichts war da, alles wie immer. Ich trocknete mich ab und blickte auf das Wasser des Sees. Es dauerte einen Moment, dann sah ich sie. Sie waren vielleicht 10-15cm lang. Dünn, wie ein Haar oder eine besonders dicke Borste, ohne erkennbares „vorne“ oder „hinten“. Irgendwo zwischen Haar, Wurm, und haarigen Tentakel. Hunderte dunkle, wimmelnde Körper. Das Wimmeln anzusehen machte mich fertig. Unnatürliche, zuckende Bewegungen, tastendes Suchen. Wenn sich die Dinger berührten, schlangen sie sich sofort ineinander, umwickelten sich gegenseitig wie ein Kloß glitschiger Haare, den man aus dem Sieb in der Dusche fischt. Bei dem Gedanken daran, dass ich gerade zwischen diesen Viechern getrieben war, machte sich ein sehr ungutes Gefühl in mir breit. Sehr ungut. Ich ging ein paar Schritte am Ufer entlang. Die Würmer richteten sich neu aus, strebten wieder in meine Richtung. Bestimmt nur ein Zufall. Ich ging schnell in die andere Richtung, rannte am Ufer entlang. Und wieder schwammen sie in meine Richtung. Sie wollten zu mir, sahen mich oder spürten mich oder nahmen mich wahr? Mit dem Gefühl, nicht mehr tief atmen zu können, raffte ich meine Sachen zusammen und flüchtete so schnell wie möglich vom See mit seinen widerlichen Bewohnern. Auf dem Rückweg bemerkte ich die Dornen nicht, die mir ins Fleisch schnitten, die Äste, die mir ins Gesicht peitschten, ein paar mal rutschte ich aus und fiel hin, ohne es richtig wahrzunehmen. Meine Gedanken kreisten um Endoskopie, CTs, MRTs und alle anderen Scans mit denen man ins Innere sehen konnte. Lief ich hier durch den Wald mit einem dieser Würmer im Arsch? Grub er sich gerade durch meinen Darm, durch mein Inneres, labte sich an mir, fraß und biss, zerfetzte? Ich bemerkte ein Ziehen im Bauch, das ich so nicht kannte. Kurze, schmerzhafte Stiche, die immer weiter nach oben wanderten. Auf dem Heimweg trat ich das Gaspedal bis zum Boden durch. Zu Hause angekommen war ich viel ruhiger. Ich merkte, dass ich mich von der Panik hatte hinreißen lassen, was eigentlich gar nicht meinem Wesen entsprach. Das Ziehen im Bauch hatte sich gelegt, ich spürte nichts mehr, fühlte mich leicht und gut. So wie sonst, wenn ich im See geschwommen war. Ich besann mich auf, das, was ich gut kann: Wissenschaftlich arbeiten. Ich würde eine Tabelle anlegen, körperliches Empfinden, Launen und ungewöhnliche Verhaltensweisen festhalten. Essenszeiten, Trinkmenge, Befinden, Schmerzen. Sollte sich in der Datenlage irgend eine Auffälligkeit zeigen, dann würde ich mir sofort medizinische Hilfe nehmen, ganz sicher. Heute, genau 48 Tage später, mache ich eine erneute Review. Die Welt hat Probleme, ich glücklicherweise nicht. Die Nachrichten sind voll von der möglichen Parasitenpandemie. Sie konzentrieren sich auf Menschen als Wirt, dringen in unsere Körper ein und befallen letztendlich das Gehirn. Jung sind sie nicht mehr als eine dünne Bartstoppeln, mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Sie fremdsteuern ihren Wirt, sorgen dafür, dass sie sich weiter verbreiten können, wachsen heran. Vervielfältigen sich und leben von uns. Letztendlich geht der Wirt, oder sagen wir es deutlich: Dein Zahnarzt, dein Sohn, deine Frau, zugrunde. Dann, im Versuch, noch einen neuen Wirt zu finden, treiben sie die Befallenen in spektakuläre Selbstmorde, bei denen Fleisch und Blut in möglichst viel und weitem Umkreis verteilt wird. Die Bilder aus dem Netz haben mich sehr verstört zurückgelassen. Teenager, die von hohen Gebäuden sprangen, Männer, die sich in die Luft sprengten. Viel Mensch bleibt da nicht übrig. Die blutigen, matschigen Überreste wimmelten, während die Parasiten versuchten, an einen neuen Menschen zu gelangen. Unvorsichtige Gaffer und Retter und Passanten. Haarfeine, schwarze Fäden winden und strecken sich in Lachen aus Blut und Gehirn. Jeden Tag mehr. Erst nur in Deutschland, dann erste Fälle in Polen, Frankreich, den USA. Das könnte groß werden. Den Ursprung, die Quelle, Patient 0 hat man immer noch nicht ausmachen können. Dadurch, dass die Befallenen erst mal nichts bemerken und innerhalb kürzester Zeit von Parasiten ferngesteuert werden ist es schwierig, die Infektionskette nachzuvollziehen. Man weiß derzeit nicht mal ganz genau, wie der Verbreitungsweg ist. Nahrung, wird vermutet, ungekochtes. Ich hatte bisher Glück. Meine Gewohnheiten haben sich nicht geändert. Jeden Tag schaue ich mir die Listen an, die ich minutiös führe. Nichts. Alles normal, ein durchschnittliches Leben. Keine Auffälligkeiten. Laut der Aufzeichnungen habe ich oft Kopfschmerzen, aber die hatte ich immer schon gelegentlich. Mit jeweils drei 800er Ibuprofen morgens und abends bin ich ganz beschwerdefrei, also kein Grund zur Sorge. Temporär etwas überdurchschnittlicher Schmerzmittelverbrauch. Meine Ernährung ist gut, Sport treibe ich, in meinem Job hat sich nichts verändert. Eine gute Statistik. Normal. Verhaltensweisen zu beurteilen ist schon schwieriger, da ich schon immer ein unsteter Mensch gewesen bin. Ich gehe gerne und oft schwimmen und schätze dabei die Gesellschaft anderer Menschen. Ich mag das Lärmen, das Laute, das Lebendige, das eine Masse anderer Menschen mit sich bringt. Manchmal gehe ich morgens und abends in eines der vielen Schwimmbäder der Stadt. Meistens in ganz verschiedene, so lernt man neues kennen. Im Wasser fühle ich mich oft plötzlich ganz erleichtert. Vom Gefühl her so, als wenn man lange musste und dann endlich auf der Toilette sitzt. Das warme Wasser ist herrlich und Sport ist gesund, wenn sie mich fragen. Also auch hier nichts Schlechtes zu finden. Ich würde sonst auch sofort zum Arzt gehen, ganz klar. Ich spiele den Leuten gern kleine Streiche, die sie nicht bemerken, Es erfüllt mich mit diebischer Freude, wenn ich zum Beispiel ein minimales bißchen meines Speichels, Urins oder auch Stuhls (Kacke, ich sags, wie es ist) an eine Türklinke schmiere und mir vorstelle, dass gleich jemand reinfassen könnte. Vielleicht ein paar Stunden so rumläuft, isst, anderen die Hand gibt, sein Kind füttert. Nicht nett, ich weiß, auch ein bisschen eklig vielleicht, aber doch völlig harmlos. Und sehr lustig! Die Leute sollen sich ja auch mehr die Hände waschen. Übertrieben formuliert hebe ich also den Hygienestandard. Verschroben, aber harmlos und alles innerhalb normaler Parameter. Ich habe diese Punkte extra mit asymmetrischer, vektorieller Entropieanalyse untersucht und festgestellt: Ja, alles normal. Probleme haben die die ihr Essen nicht durchkochen (was ich immer tue). Die holen sich Parasiten und merken nicht, dass sie sich anders verhalten als vorher. Ein wenig Achtsamkeit und Statistik helfen da doch extrem! Ich gehe neuerdings sehr gerne in große Clubs und habe die öffentlichen Verkehrsmittel für mich entdeckt. Die verleumdete Rushhour stört mich dabei nicht weiter. Ein bisschen Körperkontakt kann man in Kauf nehmen, oft ist es ja auch ganz schön, die Wärme eines anderen Menschen zu spüren und seinen Atem zu fühlen.. Besonders in Zeiten des Klimawandels also auch ein positiver Beitrag den ich bereit bin, zu leisten. Es gibt in den letzten Wochen nur ein Ereignis, das anders, düsterer war. Fast hätte ich eine Dummheit begangen. Ich kam gerade von einem Konzert. Kopfschmerzen pulsierten wie ein radioaktiver Stroboblitzer in meinem Kopf. Die Musik war aber auch wirklich sehr laut gewesen, die Halle klein und heiß und vollgestopft mit schwitzenden Menschen. Ich fuhr also mit dem Aufzug nach oben (den Nachbarn hatte ich hier gestern einen kleinen Streich mit einem Mikrofilm aus Blut gespielt und lange darüber gelacht), als ich es sah. In mein rechtes Auge schob sich plötzlich ein langer, beweglicher Schatten. Panisch rieb ich das Auge weil ich dachte, ich hatte Staub oder Dreck hinein bekommen. Der Schatten blieb. Er wand sich hin und her, verdeckte mir immer wieder die Sicht und zuckte. Die Kopfschmerzen nahmen an Intensität so zu, Hochspannungsblitze. In meinem Auge zappelte und wand es sich. Ich hatte definitiv eines dieser Viecher im Auge. Tausende in mir? Ich rannte in meine Wohnung, ins Schlafzimmer und zog die schwere Holzkiste unter dem Bett hervor. Ich ließ den Verschluss aufschnappen, ohne den erhabenen Schriftzug „Sig Sauer“ auf dem Deckel auch nur anzusehen. Ich musste schnell handeln, wollte nicht zu würmerwerwimmeltem Matsch auf dem Asphalt werden. Dann lieber eine Kugel im Kopf und Einsamkeit. Die Schmerzen blitzten durch meinen Körper, in meinem Auge wimmelte und zuckte es ekelerregend. Ich spürte Tränen an meiner Wange herunter laufen, wischte sie beiläufig weg. Meine Hand war rot von Blut, das mir aus dem Auge lief. Ich entsicherte die schwere, schwarze Waffe, zog den Schlitten zurück. Zur Besinnung kam ich, als ich das kalte Metall im Mund schmeckte. Die Schmerzen waren plötzlich weg, mein Auge war klar wie eh und je. Eine tiefe Ruhe legte sich über mich und ich sah alles wieder scharf und analytisch vor mir. Ich nahm ein langes, heißes Bad und war wieder ganz der Alte. Die Musik, Alkohol, die Hitze. Komische Reaktion, zugegeben. Seitdem habe ich eine weitere Spalte in meiner Tabelle. Eine für „gesteigerte psychische Belastungsereignisse“. Bisher nur ein Eintrag. Statistischer Ausreißer, Einzelereignis. Ich beobachte weiter. Die P226 habe ich nachts in den Fluss geworfen. Nur zur Sicherheit. Aber jetzt läuft ja alles wieder wie immer. Gut, dass ich nicht gleich in die Klinik gerannt bin. Die hätten nichts gefunden und gedacht, dass ich komplett spinne, oder? In den letzten Wochen habe ich mich sehr darum bemüht und heute endlich eine Einladung bekommen: Lagoon Fun Club. Im Grunde genommen eine (illegale) Swinger- und Sexparty. Die größte im Land, fast 900 Teilnehmer. Angesichts der drohenden Pandemie etwas gefährlich, ja. Allerdings will ich auch mal Spaß in meinem sonst völlig normalen Leben haben und irgendetwas sagt mir, dass ich dort genau richtig bin.