Gegen die Reduktion: Aiwangers Fluglbatt war nicht nur antisemitisch

Das Aiwanger-Flugblatt war antisemitisch, zweifelsohne. Aber es war nicht nur antisemitisch, und wird aktuell fast ausschließlich als antisemitisch behandelt. Das macht mir Sorgen. Denn mit der schnellen Abarbeitung und Normalisierung von Aiwanger wird nicht nur der Antisemitismus und die Bagatellisierung der von Nazideutschland betriebenen Massenvernichtung von jüdischen Menschen enttabuisiert. Im Flugblatt ging es ja um “Vaterlandsverräter”.

Jene “Vaterlandsverräter” waren es im Flugblatt Aiwangers, die in einer fantasierten Wiederholung des Holocausts vernichtet werden sollten; und es waren auch tatsächlich ganz real zunächst politische Gegner—Linke—, die ins erste Nazi-KZ, Dachau, gebracht worden sind.

Die rhetorische Reduzierung des Nationalsozialismus auf Antisemitismus wurde nicht 2023 erfunden, die findet man auch in gewisser Weise bei Horkheimer und Adorno, sowie bei Sartre, schon während des Kriegs. Inzwischen ist die Reduktion aber oft nicht nur rhetorisch.

Es ist klar, dass der Nationalsozialismus auf eine einmalige Art und Weise auf die Vernichtung jüdischer Existenzen fixiert war, von daher ist die Gleichsetzung von Nazis==Antisemiten nicht grundlos. Aber die Nazis waren (und sind!) nicht nur antisemitisch. Wenn wir den deutschen Faschismus und seine spätere Verklärung restlos auf Judenhass reduzieren, entkommt er in wesentlichen Teilen unserem Blick und lässt sich schließlich kaum bekämpfen. Diese Reduzierung ist in Zeiten aufsteigenden Faschismus eine ernsthafte Gefahr.

Die mörderische Unterdrückung der Linken ist kein Nebeneffekt des Antisemitismus gewesen, umgekehrt auch nicht. Ebenso das Wegmorden von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten und von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen. All diese gehören mit zum Nationalsozialismus. Auch eine verklärte, mythologisierte Sicht auf nationale Vergangenheit und Identität; ein glühender Militarismus, der mit “Härte” und Gewalt alle soziale Probleme zu entfernen verspricht; eine Verselbständigung der Exekutivgewalt; und einiges mehr.

Ein Faschismusverständnis, das so dünn ist, dass es sich auf eine einzige Form von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit reduziert, lässt fast alle Türen den Faschisten offen (alle, bis auf eine.)

Ein dermaßen dünnes Faschismusverständnis lädt zu einem derart dünnen Antifaschismus ein, dass sich manche Neofaschisten in ihn hineingebärden können: Sie müssen nur augenscheinlich zeigen, dass sie Juden per se nicht hassen. Das können inzwischen Neofaschisten weltweit ganz gut.

In Dachau wurden zuerst Linke eingesperrt, dann wurden da Vernichtungstechnologien und -methoden entwickelt und getestet, die zum Massenmord in Auschwitz und anderen KZs eingesetzt wurden. Wenn auch Linke heute Dachau und Auschwitz nur auf Judenhass reduzieren, mache ich mir Sorgen.

Eine Reduzierung des deutschen Faschismus auf Judenhass kommt auch auf kosten des essenziellen Verständnis, dass es im Eigeninteresse aller Gesellschaftsgruppen liegt, den Faschismus zu verhindern—und keine Wohltat für eine Minderheit ist.

Aber eine ganzheitliche Erinnerung des Nationalsozialismus erfordert wohl ein Grad an Selbstkritik und Veränderung—struktureller, individueller, kollektiver—das sich nicht durchsetzen konnte, und wir landen da, wo wir nun stehen: Ein Flugblatt voller Mordfantasien an “Vaterlandsverräter” und Verherrlichung der allgemeinen Gewaltherrschaft wird als Angriff auf eine einzige Minderheit angeprangert, sodass die Gefahr größtenteils aus dem Blick entfällt und viele einfach mit den Schultern zucken.