Ein paar Worte zum Fall Lindemann

Bei diesem Text weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Hier versagt mein journalistisches Ich. Kollegen könnten genüsslich die Vorwürfe herunterbeten, die im letzten Monat gegen Rammstein-Frontmann Till #Lindemann von inzwischen hunderten Frauen erhoben wurden, doch das will und werde ich nicht tun. Die Opfer des so lange gefeierten, verstandenen, umjubelten, verteidigten, mutmaßlichen Vergewaltigers mit der leisen, einfühlsamen Stimme, dessen lyrisches Ich in Gedichten und Liedern von Gewalt nur so strotzt, haben ihre eigenen Wege gefunden, sich zu äußern, sie brauchen meine Wiedergabe des bereits Bekannten nicht. Stattdessen möchte ich mich mit den Reaktionen auf die Vorwürfe befassen.

Wobei: Eigentlich ist auch das sinnlos, denn es sind immer dieselben, erwartbaren Reaktionen, die man im Netz, das heute die öffentliche Meinung repräsentiert, findet. Viele Männer sagen, man solle jetzt keine Generalanklage gegen das männliche Geschlecht erheben, es wären doch nicht alle so, Andere trauen sich zu behaupten, dass sich wohl kein Mann von Fantasien freisprechen kann, die sexualisierte Gewalt gegen Frauen beinhalten. Die dritte Gruppe zuckt mit den Schultern: Was erwartet ihr, wenn ihr auf ein Rock-Konzert geht? #Rock'n-Roll ist Freiheit, #Grenzüberschreitung und spielt mit dem Unerhörten, dem Unerlaubten, dem offen unbürgerlichen Tun und Wollen!

Freiheit? Grenzüberschreitung? Freiheit für Wen? Warum sind gewalttätige Rockstars eigentlich nur Männer, und warum sind #Groupies nur Frauen? Aus irgend einer Ecke raunt es, auch Stars wie Madonna oder die Bangles hätten sicher männliche Groupies, aber das ist nachweislich falsch. Von einem einzigen Mann ist bekannt, dass er den Bangles eine Weile nachgereist ist und aufdringlich aber gewaltlos versuchte, in ihre Betten zu kommen. Das nächste Geraune hebt an: Aber auch die weiblichen Groupies sind nicht immer Opfer! – Sagt auch niemand. – Unter den sogenannten berühmten Groupies gab es in den Sechzigern und frühen Siebzigern durchaus selbstbewusste Frauen, die sich mindestens ebenso für die Kunst und die Musik wie für die Körper der Rockstars interessierten. Nur unsere Gesellschaft hat sie auf die Rolle als Sexobjekte reduziert. Die niederländische Band “Bots” singt im Originaltext ihres Liedes “Popmuzikant”: “... (Ich) stand zum ersten Mal vor großem Publikum. Dreimal in der Woche ließen wir es so richtig krachen! In der Pause lagen die Mädchen bereit, und ich schwamm im Geld”. Für wen also bringt der Rock'n-Roll-Lifestyle Freiheit? Natürlich für die männlichen Stars. – Für wen sonst? Mick Jagger kann mit 80 auf die Bühne gehen und singen, wie er will, er wird umjubelt. Madonna trifft mit 60 bei einem Live-Auftritt beim ESC nicht jeden Ton und wird von der Kritik in Grund und Boden getreten. Höre man mir auf mit dem Rock'n-Roll!

Aber was hat das alles mit Till Lindemann zu tun?

Die Journaille versucht zu verstehen, warum Lindemann die Grenzüberschreitung so liebt, dass er sie zum Hauptbestandteil seines lyrischen Ichs machte. Schließlich ist er in der DDR aufgewachsen und hat einen viel tieferen, intensiveren Wunsch nach und Begriff von Freiheit. Provokation ist das Recht, das System anzuzweifeln und zu hinterfragen, erklären die selbsternannten Musikpsychologen. Dabei kann einem bei dem, was Lindemann schreibt und singt, nur speihübel werden! Als die Band anfing, so heißt es aus ihrem Umfeld, habe man sich zunächst nur auf Eines einigen können: Ficken. Mehr muss man einfach nicht wissen.

Unsere Gesellschaft ist zutiefst frauenverachtend, sexualisiert und gewaltverherrlichend. Es trifft und betrifft nicht jede Frau, manche haben bessere Startvoraussetzungen, manche haben sich ein dickes Fell zugelegt oder halten durch unbekümmert selbstbewusstes Auftreten die schlimmsten Auswüchse von sich fern, aber im Großen und Ganzen leben wir in einer Welt, in der auch nach den Vorwürfen gegen Till Lindemann die Konzerte der Band ausverkauft sind, in der sich niemand von dem Mann distanziert, außer seinem Verlag, weil es ihn Einnahmen kosten könnte, und in der die Frauen, die sich nun mutig an die Öffentlichkeit wagen, bedroht, verhöhnt und der Falschbeschuldigung bezichtigt werden. Auf Shelby Lynn, die Frau, die als Erste mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit ging, wurde von einem der #Fans von #Rammstein sogar ein #Kopfgeld ausgesetzt. Gleichzeitig wird die Lüge verbreitet, Falschbeschuldigungen gegen Männer wegen sexualisierter Gewalt hätten sich als probates Mittel der Frauen für eine Rache gegen Ex-Partner etabliert. Die Zahl der Falschbeschuldigungen mag leicht zugenommen haben, aber das ist statistisch nicht signifikant. Den Verteidigern Lindemanns ist das egal. Sie verteidigen nicht einen einzelnen Rockstar, sie verteidigen das #Patriarchat. Lindemann ist nicht der Erste und wird nicht der Letzte sein, gegen den Anschuldigungen erhoben werden, die juristisch nicht bewiesen werden können und keine Folgen zeitigen. Marilyn Manson ist auch so einer. Und das alles trotz der #MeToo-Debatte, die im allgemeinen nichts wirklich verändert hat. Je offener diese Männer mit ihren Verbrechen umgehen, je öffentlicher sie sie zelebrieren, desto mehr sieht die Gesellschaft weg und ist davon fest überzeugt, dass es sich nur um ein lyrisches Ich handeln kann. Für ihre offene Grenzüberschreitung werden diese Männer sogar bewundert und im Feuilleton in den höchsten Tönen gelobt.

Ich weiß gar nicht, wo dieser Text hinführen soll. Er soll vermutlich meinen Zorn, meine Ratlosigkeit, meinen Ekel ausdrücken. Dass er nichts ändert, weiß ich längst. Soll er meine Solidarität mit den Opfern Lindemanns und aller toxischen Männer ausdrücken? Ja, natürlich auch das. Doch damit macht Mann es sich immer besonders leicht. Auch ich könnte sagen: “Nicht alle Männer sind wie Lindemann, ich auch nicht.” Wem wäre damit geholfen? Niemandem! Auf die vorgebrachte Aussage, in jedem Mann stecke doch ein kleiner Eroberer, der Fantasien von Grenzüberschreitungen gegenüber Frauen habe, könnte ich noch viel mehr sagen, aber wem hilft es? Nur so viel: Das sehe ich ganz anders, und zwar aufgrund eigener Gefühle. Von verschiedenen Autorinnen wird inzwischen gefordert, nicht vor allem den “Fall Lindemann” bis ins Kleinste auszuwalzen, sondern sich damit zu befassen, was sich wie in unserer Gesellschaft ändern könnte, damit so etwas in Zukunft nicht mehr vorkommt. Eine gute Idee, doch die bisherigen Skandale, so zahlreich sie sind, haben auch nicht zu einem Umdenken, und schon gar nicht zu einem gesellschaftlichen Dialog geführt. Man kann doch weder die Kunst, noch die Ausformulierung erotischer oder pornographischer Grenzfantasien verbieten, ruft es aus der Ecke der Verteidigerinnen der Kunstfreiheit. – Natürlich nicht. Bloß geht es dabei immer um männliche Dominanz und die Unterwerfung von Frauen. Das sollte uns zu Denken geben. Nur Männer gehen öffentlich an die Grenze dessen, was man als strafrechtlich bedenklich bezeichnen kann, wenn es tatsächlich geschähe und nicht nur Fantasie wäre. Schwierig wird es dann, wenn ein hypermännlicher Künstler mit Gewaltfantasien, die er in seinem bisherigen Leben für sich behalten oder nur in Liedern und Gedichten ausgedrückt hat, plötzlich über eine Logistik, einen Stab von Security-Leuten verfügt und genügend Geld hat, um sich Frauen von willigen Mitarbeiterinnen zuführen zu lassen, sie einschüchtern und unter Drogen setzen zu lassen, damit er sie benutzen kann, wie er es in seinen Fantasien beschrieben hat. Die männlichen Mitarbeiter, die ihm geholfen haben, dürfen dann #Resteficken, also die Mädchen, die der Star nicht will, und die weiblichen Mitarbeiterinnen dürfen sich casting Director nennen und eine Macht genießen, die Frauen sonst nicht offensteht. Und wir, die Gesellschaft, die Journalisten, die Veranstalter, die Fans, die gern Skandalgeschichten hören, haben einfach weggeschaut. Als die Schauspielerin Kayla Shyx nach einem Besuch eines Rammsteinkonzertes vor einem Jahr ein Video auf Youtube stellen wollte, in dem sie beschrieb, was ihr hinter der Bühne geschehen war, forderte ihr damaliges Management sie auf, das Video nicht zu veröffentlichen: “Das weiß doch eh Jeder, wir wollen doch kein Aufsehen erregen”, hat man ihr gesagt, und sie hat sich umstimmen lassen, was ihr jetzt Gewissensbisse macht. Die Macht der Gewohnheit, dass Frauen keinen Aufstand machen sollen, war stärker als das eigene Gewissen einer mutigen Frau.

Einige Feministinnen hoffen und glauben, dass wir gerade die letzten Zuckungen des Patriarchats erleben, dass es sich noch einmal aufbäumt, bevor es endgültig vergeht. Ich glaube das nicht. Für mich sind wir auf dem Weg zurück ins finstere Mittelalter, das Margaret Attwood in ihrem Buch “Der Report der Magd” so zeitlos beschreibt. Der Angriff der mächtigen Männer auf die Selbstbestimmung und die Rechte der Frauen hat nicht nur längst begonnen, er zeitigt auch bereits Erfolge in den offiziell freiesten Nationen der Welt, wie man an den neuen Anti-Abtreibungsgesetzen in den USA sehen kann. Till Lindemann und seine Sicht auf Frauen ist kein außergewöhnlicher Einzelfall, sondern weit verbreitet. Und wir alle wissen das, es kümmert uns nur selten. Jetzt wird mal wieder ein paar Wochen darüber gesprochen, solange sich die Medien für den Fall interessieren. Danach geht alles so weiter wie zuvor. Wenn die Band nicht mehr unter Beobachtung steht, wird es wohl auch bei Rammstein wieder eine “Row Zero” geben, nehme ich an.

Ich wünschte, die Frauen wären tatsächlich so mächtig, wie man ihnen in der toxischen Mannosphäre unterstellt, dann könnten sie ein für allemal Schluss mit dieser verachtenswerten Männlichkeit machen.

P. S.: Dieser Beitrag stammt noch von meinem alten Blog. – Inzwischen, genau einen Monat später, hört man nichts mehr von Lindemann und Rammstein.

P. P. S: Es ist unfassbar: Gerade heute veröffentlicht die Tagesschau einen ausführlichen Bericht, in dem auch Vorwürfe gegen andere Bandmitglieder von Rammstein benannt werden. Es ist unfassbar, dass mehrfach in diesem Text steht, es gelte die Unschuldsvermutung, was ja selbstverständlich sein sollte, was aber nur bei Vorwürfen von Frauen so oft gesagt wird. Die betroffenen Herren der Schöpfung weisen die Vorwürfe zurück und empören sich darüber, dass man in ihre Intimsphäre eingreife. “Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte”, sagte Max Libermann in einem anderen Zusammenhang, aber mir geht es ebenso. Und diese neuen Vorwürfe sind extrem gut dokumentiert, aber ich wette, es wird nichts unternommen werden. Das Thema ist, wie sagt man so unschön, abgefrühstückt.

Zum Schluss einige weitere Links:

Hier das Youtube-Video von Kayla Shyx, in dem sie über ihre eigenen Erfahrungen berichtet:

Porno mit Buch: Wo hört das lyrische Ich von Till Lindemann auf? (SWR)

Till Lindemanns Skandalgedicht “Wenn du schläfst”

Ein guter Artikel des Freitag über das lange Schweigen gegenüber Gerüchten.

Ein sehr guter Artikel aus der Schweiz über die Frage, wie falsch unsere Debatte über Till Lindemann läuft, und wie subtil Schuldumkehr funktioniert