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Schriftsteller Marko Martin über die Lebenslügen der Ostdeutschen

„Jetzt singen wir alle unser schönes Lied ‚Kleine weiße Friedenstaube‘!“, rief die Frau auf der Tribüne und: „Für die, die nicht mehr ganz so textsicher sind, haben wir Zettel verteilt.“

Unter den an diesem Abend zahlreich Versammelten vor der kleinen Holztribüne auf dem Marktplatz in Greifswald erhob sich einverständiges Lachen. Aber natürlich erinnerten sie sich. Aus den Zeiten von DDR-Kindergarten, Pionier-Nachmittagen und FDJ-Veranstaltungen.

Die Frau auf der Tribüne stimmte an, ein wenig leiernd und unter dem Fiepen und Rauschen des Mikrofons, doch ohne einen Blick auf den Zettel mit den Liedzeilen zu werfen. So taten es ihr die meisten auf der „Antikriegs-Demo“ nach. Zuvor hatte ein Mann im Anorak der Menge schon unter Applaus kundgetan, dass es ihn „nicht interessiert, ob nun jemand von der AfD oder von den Linken kommt, wenn er nur für den Frieden ist und gegen die Kriegstreiberei einer Frau Baerbock“. Dann also wurde in vielen Stimmlagen intoniert: „Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land / allen Menschen, groß und kleinen, bist du wohlbekannt.“

Der larmoyant-triumphalistische Chorgesang blieb mir auch dann noch im Ohr, als ich längst weitergelaufen und im nahe gelegenen Wolfgang-Koeppen-Haus angekommen war. Dort sollte ich wenig später mit meiner Kollegin und Freundin Radka Denemarková über das neototalitäre Russland und China diskutieren. Die Assoziationen aber, die das Lied in mir geweckt hatte, holten mich zurück in den allernächsten Osten. Natürlich kannte auch Radka aus den Jahren vor 1989 die „Kleine weiße Friedenstaube“. Und auch die Zuhörer unseres Gesprächs erinnerten sich mit Grausen. Wer nun repräsentativer für „den“ Osten war, die kritischen Geister im Koeppen-Haus oder die vielen Nostalgiker auf dem Markt? Eine müßige Frage.

In den Wochen, die seither vergangen sind, wurden die „Friedens-Demos“ in ostdeutschen Städten weniger; geblieben ist die im Vergleich zu den alten Bundesländern niedrigere Zustimmung zu Wirtschaftssanktionen gegen Putins Regime und, noch eindeutiger, zu deutschen Waffenlieferungen für die Ukraine.

Interessant finde ich jene zwei Begründungen, die einander zwar radikal ausschließen, die aber immer wieder in den Kneipengesprächen und Leserzuschriften an Regionalzeitungen auftauchen: Weil „wir“ in frühen Jahren das Militarisierte des DDR-Alltags erlebt haben, sind „wir“ auch heute gegen Waffen. Und: Weil „wir“ uns so gut an die kleine weiße Friedenstaube und andere einstige Manifestationen der „friedlichen Koexistenz“ erinnern, bleiben wir skeptisch gegenüber den Panzerlieferungen des Westens. So spricht bei seinen Veranstaltungen auch gern der einstige SED-Chef Egon Krenz. Die besungene Taube ist für ihn das Symbol dafür, „dass die DDR militärisch nie Gewalt ausgeübt“ habe. Die logistische Schützenhilfe bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und das bis 1989 andauernde staatliche Schießen und Erschießen an der Mauer kommen bei ihm nicht vor.

Dabei ist es offenkundig, dass die damalige Friedensrhetorik allein dafür benötigt wurde, der allgemeinen Militarisierung ein moralisches Mäntelchen umzuhängen. Nicht zufällig war auf den Appellplätzen der Schulen und Lehrlingsstätten und später bei der Armee permanent von „bewaffnetem Friedenskampf“ die Rede. Bestenfalls ließe sich das krude Ahistorische der heutigen Argumentationsmuster noch als der tiefenpsychologisch nachvollziehbare Versuch deuten, hier eine Art kollektiven Erfahrungsvorsprung Ost zu behaupten. Aber ist das plausibel?

Trotz meiner Skepsis gegenüber der beliebten „Ich als ...“-Redefigur möchte ich an dieser Stelle einige persönliche Erinnerungen teilen. Ich selbst erfuhr erst in der Schule von der Friedenstaube, weil ich ein „Hauskind“ gewesen war, kein „Kindergartenkind“. Dorthin hatten mich meine christlich orientierten Eltern nicht schicken wollen: Ein Fünfjähriger musste aus ihrer Sicht nicht unbedingt lernen, wie man Panzer für den „Tag der Grenztruppen“ malte.

Ich war dann auch weder Jungpionier noch Thälmann-Pionier, trug weder das rote noch das blaue Halstuch und entschied später als Jugendlicher selbst, kein Mitglied der FDJ zu werden, die sich als „Kampfreserve der Partei“ bezeichnete. Damit ich nicht an den paramilitärischen „Hans-Beimler-Wettkämpfen“ teilnehmen musste, wurde mein Vater mit freundlicher Überredungskunst beim Genossen Schuldirektor vorstellig. In dessen Büro verhandelte man danach auch darüber, ob ich ab der 9. Klasse bei meiner Zwangsteilnahme am Wehrkundeunterricht verpflichtet sein würde, mich durch Handheben und Fragenbeantworten aktiv zu beteiligen.

Das alles wurde ebenso akzeptiert wie meine Abwesenheit bei der vormilitärischen Lagerausbildung. Während die männlichen Mitschüler für eine Woche in einem Armeelager verschwanden, blieb ich zusammen mit den Mädchen im Schulgebäude und lernte, Klebestreifen an Fensterrahmen anzubringen – „für den Fall eines Giftgasangriffs durch die Bundeswehr“. Ich erinnere mich an einige grummelnde und misstrauische Bemerkungen, an verstecktes Gelächter, an das raue Lachen der Jungen nach der Rückkehr vom Militärtraining. An zum Ausdruck gebrachtes Entsetzen erinnere ich mich nicht.

Dass mit einer derartigen Vorgeschichte nach Abschluss der 10. Klasse kein Besuch einer zum Abitur führenden Schule denkbar war, verstand sich von selbst. Sogar als man mich wegen erneuter Verweigerung der vormilitärischen Lagerausbildung aus meiner Lehre warf, war das rechtskonform: Ich hatte ja gegen eine Klausel des Lehrvertrages verstoßen. Ich erinnere mich an das hämische Grinsen der Genossen Lehrmeister, an die peinlich berührten, abgewandten Blicke der anderen Lehrlinge. Aber auch an so manche im Verborgenen formulierte Ermutigung und einen Mitlehrling namens Michael, der daraufhin von seiner freiwilligen Verpflichtung zu drei Jahren Armeedienst zurücktrat, weil er, wie er mir sagte, einem solchen Staat nicht über Gebühr untertänig sein wollte. Woran ich mich nicht erinnere: An jenes pazifistische Unbehagen, das heute lautstark als Argument gegen deutsche Waffenlieferungen an die bedrohte Ukraine ins Feld geführt wird.

Als ich 1987 im Wehrkreiskommando im sächsischen Rochlitz die Annahme des Wehrpasses verweigerte und meine Armeediensttotalverweigerung ankündigte, wurde ich für zwei Stunden in einem Zimmer eingeschlossen. Man wollte mich zum Umdenken bewegen. Später wurde dann in den Räumlichkeiten der Abteilung Inneres beim „Rat des Kreises“ der Ton verschärft, ich hörte Schreie und Drohungen, ich sollte ins Gefängnis gesteckt werden, „ganz so wie dein Vater damals ein paar Wochen nach deiner Geburt“. Es blieb bei den Drohungen. Im Mai 1989 konnte ich mit meinen Eltern und meiner jüngeren Schwester in die Bundesrepublik ausreisen.

Und doch erinnere ich mich bis heute an die Schreie der Stasimitarbeiter, an das ostentative Schweigen und Gemurmel in der Nachbarschaft und unter den Kollegen, als ich in meinem letzten DDR-Jahr Hilfsarbeiter wurde. „Tja, da kannste nüscht machen.“ „Selber schuld, musst eben mit den Wölfen heulen.“ Keine Bösartigkeit in alldem, nein. Keine herausgeblökte Regimetreue. Friedfertigkeit: vor allem als der Wunsch, in Frieden gelassen zu werden.

Dagegen war nichts einzuwenden. Irritierend dagegen das neue, ins Kollektive zielende Bild einer quasi ostdeutschen Friedensgemeinschaft. Irritierend auch, wie solche Gestimmtheit bis heute fortlebt: „Lasst uns doch endlich mit Putin und dieser Ukraine in Ruhe.“ Schräger Vogel Friedenstaube.

Marko Martin, geb. 1970, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Ende Februar erscheint sein Porträt-Band „Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag, Wien).

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Februar 2023