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Homeoffice und meine Erfahrungen mit der deutschen Arbeitswelt. Ein Rant.

Ich arbeite schon seit ein paar Jahren hauptsächlich von zu Hause aus, denn ich bin Solo-Selbständige und mache Arbeit, die ich zum größten Teil überall machen könnte.

Vor ein paar Monaten fuhr ich dann doch einmal zur Rush Hour mit der Regiobahn. “Wenn nur ein Bruchteil der Leute, die jetzt hier drin sitzen/stehen, Home Office machen würde, wie viel CO2-Emissionem ließen sich damit vermeiden?”, fragte ich mich.

Klar: Es gibt Berufe, die erfordern unmittelbare physische Präsenz. Aber Bürojobs? Da ginge mehr.

Und da jetzt gerade viele Menschen auf einmal ins Home Office geschickt werden, fühlte ich den Impuls, mal meinen semi-qualifizierten Senf dazu zu geben.

Arbeitsplatzgestaltung: Mein persönliches Worst of

Als ich noch versuchte, Arbeit in Festanstellung zu finden, hatte ich ein lebhaftes Interesse daran, herauszufinden, wie denn der konkrete Arbeitsplatz aussähe. Würde ich im Großraumbüro sitzen? Im Teambüro? Könnte ich ungestört arbeiten? (Zum Kontext: Ich habe ein paar Jahre im Online Marketing gearbeitet und mich entweder auf Online Marketing- oder Inhouse Texter-Stellen beworben.) Als ADHSlerin mit nahezu keinen sensorischen Filtern setzen mich schlecht gestaltete Büros und ständige Unterbrechungen sehr schnell schachmatt (sprich: meine Konzentrationsfähigkeit verabschiedet sich bzw. sucht sich einen Hyperfokus, der nichts mit Arbeit zu tun hat); damals wusste ich zwar noch nichts von meinem ADHS, aber meine Reizoffenheit ahnte ich sehr wohl schon. Mein Traum-Arbeitsplatz war entweder ein Einzelbüro oder einer, der einem Bibliothekslesesaal mit striktem Silentium ähnelte.

Was ich bei diesen Vorstellungsterminen zu sehen (oder nicht zu sehen) oder zu hören bekam, entsetzte mich ein ums andere Mal. Bei vielen Firmen bekam ich den Ort, an dem ich später arbeiten sollte, nicht zu sehen. Andere zeigten mir Räume, in die einfach so viele Schreibtische gequetscht waren, wie irgend gingen, teilweise mit einer Tür unmittelbar hinter dem Rücken. Oder es gab loftartige Großraumbüros mit kaum akustischer und visueller Trennung der Arbeitsplätze und einer viel zu lauten Klimaanlage, Anordnungsprinzip “Hühner auf der Stange”.

Homeoffice? Nicht in deutschen Firmen

Home Office, so gewann ich um 2010 den Eindruck, war für deutsche Firmen eher kein Thema – übrigens auch nicht in der Startup-Landschaft. In der Schweiz sah das ganz anders aus (ich arbeitete ein paar Jahre nebenbei mit einer Schweizer Firma zusammen, daher gewann ich dort ein paar Eindrücke).

Und der Grund dafür? Ich glaube: Misstrauen, Mangel an Infrastruktur (bzw. der Unwillen, solche zu schaffen), Mangel an geeigneten Organisations- und Managementstrategien (und Unwillen, diese ggf. zu überdenken), ungeeignete Kommunikationskanäle.

Nummer eins darunter: Misstrauen. Wer den Arbeitenden nicht ständig im Nacken sitzen kann, muss sich darauf verlassen, dass sie ihren Job auch ohne ständigen Druck anständig erledigen.

Meines Erachtens ist dieses Misstrauen zumindest teilweise eine selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn man mich behandelt wie eine Dreijährige, ist es verdammt schwer, mich wie eine souveräne, verantwortungsvolle Erwachsene zu verhalten. Wer mich micromanagt, bekommt nicht die Qualität, die ich liefern könnte, wenn ich eine Aufgabe auf meine Weise erledigen darf. Zu Kontrollfreaks will ich sagen: “Jetzt lass mich doch mal in Ruhe arbeiten!”

Wie gelingt Homeoffice? Ein paar Anregungen von den billigen Plätzen

Vertrauen

Und das Gegenstück: Verantwortung von seiten der Arbeitenden. Das fällt mir um so leichter, je überschaubarer – und besser strukturiert – das Gesamtprojekt ist und je genauer ich weiß, welche Rolle ich in einem Projekt spiele, und je mehr ich hinter einem Projekt stehe.

Organisation und Management

Wenn Aufgaben gut definiert sind (sprich: Wer macht's, bis wann, mit einem genau definierten Zustand von “erledigt”), wenn Meetings sich nicht wie verschwendete Zeit anfühlen, wenn Zuständigkeiten und Kompetenzen klar geregelt sind (und es Vertretungsregelungen gibt – es nervt, wenn Projekte liegenbleiben, weil der kritische Mitarbeiter mit einem kranken Kind zuhause sitzt und niemand anderes es machen kann bzw. an die entsprechende Info kommt), dann arbeitet es sich auch im normalen Büro besser und angenehmer. Und erst recht im Home Office.

Zeitstrukturen

Im Präsenz-Büro entstehen Zeitstrukturen schon durch die äußeren Gegebenheiten: Kernarbeitszeiten, Mittagessen, Meetings etc. Im Homeoffice fallen sie oft weg, und der ganze Arbeitstag fängt an zu “schwimmen”. Eins weiß dann auf einmal nicht mehr, wo eigentlich die ganze Zeit hin ist oder was eins heute gemacht hat. Nun sind Menschen sehr unterschiedlich, was ihren Bedarf an Struktur angeht. Ich persönlich fahre sehr gut mit wenigen festen Terminen, um die herum ich dann meine restliche Arbeit strukturiere. Andere brauchen vielleicht mehr und verbindlichere Struktur. Was in dieser Beziehung möglich ist und wie sich die optimale Balance finden lässt, hängt von der Organisation und den Gegebenheiten ab.

Kommunikation

In Zeiten von Großraumbüros und “aber aber KOMMUNIKATION!” ist es vielleicht eine ziemlich unbequeme Wahrheit, dass die meiste Schreibtischarbeit eine eher einzelgängerische, unsoziale Angelegenheit ist. Ich kann über die geilsten Ideen mit meinen Team Mates reden – irgendwer muss sie auch umsetzen, und das bedeutet meistens: konzentriert und allein arbeiten. Mehr Kommunikation ist nicht immer mehr.

Der Alptraum in puncto Kommunikation ist, wenn Informationen ohne Regeln auf mehreren Kanälen ausgetauscht werden. Hier ein Update per SMS, dort eine Nachricht auf Slack, drüben eine Email, gerne dann noch vermischt mit Privatem und mit nichtssagendem oder nicht zum Inhalt passenden Betreff – wenn da nicht mindestens die Hälfte der Information verloren geht (oder eins Stunden mit der Suche danach verbringt), ist es ein Wunder. Die Email-Inbox ist denbkar ungeeignet als Informationsarchiv. Bei den meisten Projekten, an denen ich beteiligt war, sind irgendwann Mails kreuz und quer gegangen, und zwar um so mehr, je mehr Beteiligte dabei waren. Wenn ich dann eine spezielle Information in einer 378 Mails umfassenden Konversation mit 12 Beteiligten finden will... viel Glück. Deshalb: Systeme zum Informationsmanagement ftw. Je nach Zusammenhang und Bedarf kann das ein CRM, ein Ticketsystem bzw. Issue Tracker, ein Projektmanagementsystem oder ein Wiki sein.

Und noch was: Ich halte die Anforderung, bitte ständig verfügbar zu sein und sofort auf Chatnachrichten etc. reagieren zu sollen, für kontraproduktiv – es sei denn, das wäre die Jobbeschreibung, zum Beispiel im Support. Deshalb: Asynchrone Kommunikation ftw. Siehe auch: Schreibtischarbeit erfordert eigentlich Konzentration auf eine Aufgabe und ist mit wenigen Ausnahmen eine unkommunikative Angelegenheit. Deswegen: Ja, sich im Instant Messenger auf Do Not Disturb (und das Handy auf stumm) stellen und mal eine Stunde lang keine Email lesen sollte erlaubt sein – und als Zeichen von “ich arbeite konzentriert” gelesen werden.

Nicht notwendigerweise Entweder-Oder

Abgesehen von der gegenwärtigen Situation (die auch ohne drastische Umstellungen bei der Arbeit belastend genug ist) fragt sich ja noch, ob es nur 100% Präsenz oder 100% Homeoffice geben kann. Warum eigentlich nicht ein Mix – vier Tage Homeoffice und einen im Büro (oder umgekehrt)?