004 Von Sigrid Undstet lernen -

das sollten wohl alle gegenwärtigen AutorInnen, erfolgreiche wie nicht erfolgreiche, tun, vor allem jene, die sich dem Historischen Roman verschrieben haben.

Denn es muss nicht unbedingt immer der vordergründige Verweis auf die historische Distanz sein, welcher es bewerkstelligt, dass LeserInnen in der Vergangenheit ankommen. Im Gegenteil, es ist sogar hinderlich wenn AutorInnen indirekt darüber reden, was sie selbst als Distanz erfahren haben.

Das ist, mit Verlaub, aufdringlich und penetrant belehrend. Ausserdem interessiert es die LeserInnen nicht. Tun wir nicht so, als würden wir die Vergangenheit von Grund auf verstehen können. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Menschen der Vergangenheit nicht komplett anders gelebt haben, so als seien sie aus heutiger Sicht etwas Anderes als wir gewesen. Das versucht uns die Lektüre sozialgeschichtlicher Darstellungen aber manchmal zu vermitteln. Und wenn dies auch stimmen möge, klappt in der Poetik nicht. Sagen wir also als Schriftsteller einfach, dass die Menschen des Mittelalters nicht so grundlegend anders gewesen sein können in ihrer existentiellen Befindlichkeit. Sagen wir auch, dass HeldInnen Identifikationspotential aufweisen müssen. Dieser Zwiespalt zwischen historischer Distanz und Identifikationsmöglichkeit macht das Schreiben dieser Art von Romanen so schwierig.

Sigid Undstet beherrscht diese Kunst. Sie ist ganz sanft und leise, wenn sie von der Jugend ihrer Heldin Kristin Lanvanstochter erzählt. Eine Kinderwelt eben, erfüllt von unbestimmten Gefühlen, starken sinnlichen Erfahrungen, Verehrung des Vaters und dann: all die sensorischen Sensationen, die sie erleben darf:

Als sie oben auf dem Kamm anlangten, schlug ihnen der Wind entgegen und packte ihre Kleider – und Kristin kam er vor wie etwas Lebendiges, das ihnen hier oben entgegenflog, um sie zu begrüssen.

Und wenn dann doch die historische Differenz auftaucht, so wird sie nur subtil angedeutet. Manchmal fallen dann auch Vokabel, die durchschnittliche LeserInnen nicht kennen können: ausgesegnet sein, Kolk oder Fellwämser. Tauchen diese auf, so erklärt uns ein schlankes Glossar (und keine akademische Belehrung) was damit gemeint ist. So ist das zumindest in der modernen Fassung des Kröner Verlages aus dem Jahr 2021 gelöst. Mir kommt dabei als Negativbeispiel das Glossar in Mithu M. Sanyals Roman Identitty (2021) in den Sinn, ein akademischer Apparat, der sich aufplustert als Lerninstrument und Verständnisorgan für all jene, die den “woken” Diskurs nicht so drauf haben. Das hat in einem Roman nichts verloren.

Der Roman muss leben, dahinfliessen, keine Verständnisbarrieren und billige Sensationen verkaufen wollen. Er muss gut sein: er muss Projektionsflächen bieten, ohne sich anzubiedern. Sigrid Undsted beherrscht ihr Handwerk. Den Nobelpreis hat sie sich mehr als verdient.

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