027 Post.Anthropozän, Teil 1

Überlegungen zum Ende: Wie wird sich das Leben nach dem Ende der Herrschaft des Menschen gestalten, was bleibt uns in der kosmischen Weisheit des Universums?

(0) Hier in einer Ferienwohnung in Rosureux im Französischen Jura lese ich, wandre ich und erfahre die Natur auf eine neue, für mich sehr ungewohnte Weise. Sie ist hier kein kleines Refugium, das man besucht, um seine Nerven zu beruhigen oder um seinen naturreligiösen Neigungen nachzugehen: im Gegenteil. Die Natur ist hier überall, wuchert und summt und sprudelt über abgelegene Wege: als Mensch fühlt man sich allein dem Walten von Licht und Wetter ausgesetzt. Natur im Überfluss kann auch Bedrohung bedeuten; das wussten schon die Menschen des Mittelalters, die den Wald die grüne Wüste nannten. Begleitet wird die Macht der Natur vom Verfall der Wohngebäude überall. Kaum ein Dorf, das nicht vom Verfall der Häuser oder vom Verkauf von Grundstücken geprägt ist. Überall geht die ZahL der Bewohner zurück. Kein Wunder: verfallene Infrastruktur, keine Arbeitsplätze. Ein sträflich vernachlässigtes, vom Staat betrogenes Stück Land an der Grenze zur Schweiz. Der Gedanke liegt nicht fern, dass hier bald alles von Natur überwuchert sein wird.

Kein Wunder also, dass sich hier düstere Assoziationen aufdrängen. Die Gedanken aber erscheinen mir seltsam kostbar in all ihrer absonderlichen Grausamkeit.

(1) Während viele Intellektuelle noch zögerlich um den Begriff des Anthropozäns herumschleichen und vom Holozän als Erdepoche nicht lassen wollen, haben Andere das vom Menschen geprägte Zeitalter gedanklich schon längst hinter sich gelassen. Die Lektüre von Aldiss “Der lange Nachmittag der Erde” (1962) etwa eröffnet den literarischen Blick auf die Zeit des Post-Anthropozäns. Die Welt nach der Beendigung der Herrschaft des Menschen wird in diesem erhellenden Stück Science Fiction in delirierenden Bildern beleuchtet. Es sind nur mehr verborgene Relikte, die an die Herrschaft der verkappten Vernunft und die einstige Macht der Erdbewohner erinnern. Dieses Zeitalter ist längst vorbei, die Natur hat das “Denken” (die “Intelligenz”) verschluckt und genügt sich selbst. Die Rotation der Erde und des Mondes sind zu einem Ende gekommen und in einem gigantischen Spinnennetz miteinander verwoben, auf dem sich Gleiter fortbewegen. Die Sonne wird sich immer weiter aufblähen und letzten Endes verglühen. Ein unwiderkehrbarer Prozess der Devolution hat eingesetzt. Das Ende der Zeiten ist gekommen, auch wenn es auch noch Generationen dauern wird, bis die Erde verglüht. Auch die andere Lebensformen bedrohende und monströs wuchernde Pflanzenwelt wird vergehen. Menschliche und tierische Daseinsformen kämpfen ums Überleben, alles ist einer unausweichlichen Entropie ausgesetzt. Eine Gruppe von körperlich und intellektuell zurückentwickelten Menschen geht unsentimental ihren Überlebensinstinkten nach, das Denken bleibt auf Pilze beschränkt. Die einstmals todbringende und das Leben auslöschende Vernunft ist ausgestorben. Die Natur geht ihren unaufgeregten und von menschlichen Befürchtungen und Phantasmagorien befreiten Lauf. Das ist der literarische Befund des Post-Anthropozän des vor rund 60 Jahren erschienenen Buches. Was ist davon zu lernen?

(2) Machen wir an dieser Stelle den Versuch, dieses Stück Fiktion nicht nur als literarische Spekulation zu verstehen, sondern als ein Stück Utopie eines Lebens ohne den beherrschenden Faktor Menschheit. Zum ihrem Absterben oder zumindest zu einem radikalen Zurückdrängen ihres Einflusses wird es, ungeachtet des zu erwartenden Kampfes zwischen radikalen Klimafraktionen unweigerlich kommen. Niemand von nennenswertem Einfluss denkt gegenwärtig auch nur im Geringsten daran, sich an die in Scheinkonferenzen phantasierten “rationalen” Klimaziele auch nur annähernd halten zu wollen. Wir sehen Tag für Tag zu, wie machtlos die seit der Aufklärung so ins Zentrum gerückte gesellschaftliche Vernunft geworden ist. Nicht in die glückliche Zukunft hat sie geführt, sondern in die Apokalypse wird sie uns leiten. Die Apokalypse steht den kommenden Generationen unweigerlich bevor, das nehmen wir fraglos ins Kalkül, ohne uns wirkungsvoll aufzulehnen. Damit erhebt sich die Frage, wie eine Zeit danach (also post.apokalyptisch und post.anthropozän) beurteilt werden kann. Allein es bleibt allein das impotentes Fragen nach dem Wie lange?. Wie lange wird es dauern bis zur Katastrophe, die alle/s verschlingt: 50, 100, 200 Jahre? Und was ist danach? Wer stellt die Frage nach der Epoche nach dem Aussterben der Menschheit. Darf man das überhaupt denken?

(3) Nein, kein schlagartiges Verschwinden des Menschen steht uns bevor, sondern ein stufenweises, graduelles Zurückdrängen seines Einflusses, ein Verkümmern seiner Macht, seiner Zivilisation, eine Rückbildung von Intellekt, Demokratie und Vergesellschaftung, eine weitgehende Zerstörung seiner Lebensgrundlagen. In der Endstufe seiner Degeneration werden dann kleine Herden von Menschtieren in neuartigen Naturräumen zu überleben versuchen, ihrer Hybris beraubt, ohnmächtig im unerbittlichen Kreislauf des Lebens. Das nehme ich von Aldiss Buch gerne mit. Die Kirche wird endgültig verfallen sein, die Produktionsmittel verkümmert, das gesellschaftliche Leben rudimentär und bedeutungslos sein. Und natürlich: jedwede Moral ist dann entwertet, ausser eine, die das Überleben sichern kann. Diese Moral aber ist reiner Reflex. Die 10 Gebote werden neu formuliert werden. Die Erde befindet sich dann im Post.Anthropozän und ist von einem schädigenden Eintrag der Menschheit befreit. Sie muss sich von ihr emanzipieren und ihrer eigentlichen Bestimmung nachkommen. Zu glauben, dass die Natur mit uns unterginge, ist in seiner Verrücktheit unserer gegenwärtigen Machbarkeitsneurose geschuldet. Nein, sie lebt ganz gut ohne uns Gegenwärtige, wenn auch in anderer und wahrscheinlich monströserer Form.

(4) Die Zeiten der Post-Apokalypse sind also vergangen, die Erde aber darf sich nach dem unrühmlichen Ende menschlichen Einflusses auf neuem Niveau weiter entwickeln, ihr kosmisches Recht weiterhin geltend machen. Das gegenwärtige Anthropozän stellt dann nur einen Wimpernschlag in der Entwicklung des Kosmos dar: das hypertrophe Wuchern menschlichen Denkens ist im Post.Anthropozän Geschichte geworden. Es herrscht wieder die Ratio kosmischer Gesetze, die menschliche Hybris ist endgültig zu Ende. Das Anthropozän wird im Nachhinein betrachtet wie die Absonderung einer zum Untergang verurteilten Rasse sein: bedeutungslos, wirkungslos, zukunftsleer und in höchstem Masse unappettitlich. Viel Bauwerk überall, viel Techné – aber überwuchert von Pflanzenwelt und dem Schrei aus der Wildnis. Nicht der Garten Eden stand am Anfang des Menschen, sondern Evolution und Devolutaion zugleich.

(Fortsetzung folgt)

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