040 Wir, die unwürdigen Alten!

Über das Altern und den Widerstand, dazugehören zu müssen.

Da soll mir keiner kommen! Wenn mit dem Reisebus massenweise alte Menschen angekarrt werden, die sich auf ein Ausstellungsgelände ergiessen und es für den Ruhesuchenden unbegehbar machen – wer äussert sich da nicht gerne abschätzig über diese Altersgruppe.

Die schmucken Orte entlang des Bodensees sind in dieser wunderschönen Jahreszeit voll von Pensionisten, die ihren wohlverdienten Ruhestand und ihre Lebenserfahrung vor sich hertragen wie eine Trophäe. Auch der, der selbst die Freuden und Leiden der Pension geniesst, wird wohl bei der Ansicht der Alten, Langsamen, Gebrechlichen, ständig Redenden die Augen verdrehen: stören sie doch seine Vorstellung, er könne als in Ruhestand Befindlicher die Welt geniessen ohne den Massenauflauf von Besuchern. Nein, keine Familien mit Kindern, keine Liebespaare, keine Jugendlichen: sondern Leute wie man selbst. Sie erinnern an den eigenen Zerfall – und das ist nicht gerade angenehm. So wollte man doch nie werden: und jetzt entdeckt man, dass man ist wie sie, zu ihnen gehört, zu jener Gruppe der über Fünfundsechzigjährigen, die ihr Recht auf ungestörte Lebensgestaltung gerne und ausgiebig in Anspruch nimmt: Die Kohorte der Über Sechzig Jährigen.

Doch die Irritationen, die eine solche Ansammlung von Menschen auslöst, könnte man zum Vergleich auch jenen Abneigungen an die Seite stellen, die der massenweise Häufung anderer Alterskohorten zuzurechnen ist: den Schulkindern etwa, Jugendlichen, Eltern etc. etc. Auch sie wollen wir nur ungern ertragen, auch sie stören Konzentration, Genuss und die (irreführende) Phantasie, man sei einzigartig und alleine auf dieser Welt. Es ist wohl so, dass Massenansammlungen stören, ganz gleich, welche Altersgruppe sie abbilden. Denn dem Misanthropen sind alle Menschen ein Gräuel und nur wenige Ausnahmen dürfen mit seiner Duldung, ja vielleicht sogar mit seiner Sympathie rechnen.

Kehren wir zu den Alten zurück, die wir mit merklicher Distanz beobachten und denen wir fälschlicherweise nicht zugehören wollen. Hie und da sticht da eine Person hervor, der wir mit Sympathie begegnen, die wir auszunehmen bereit sind vom erbarmungslosen Verdikt gegen den Alten Menschen. Es sind jene Alte, mit denen wir uns ohne Mühe zu identifizieren können, denen wir ohne allzu grosse Vorurteile zu begegnen imstande sind. Es sind jene, denen wir uns nahe fühlen, den der Mainstream in Sechzig Jahre Leben nicht zurecht geschliffen hat zu einer gebrechlichen Marionette der gesellschaftlichen Verhältnisse. Jene Pärchen etwa, die sich in ihren Siebzigern noch immer an den Händen halten oder vielleicht gar in aller Öffentlichkeit küssen; grimmige Alte, die man ein gutes Buch lesend und Bier aus der Dose trinkend auf der Parkbank trifft; Seniors for Future, streikende Omas, alternde Radikale, Sex und Esprit ausstrahlende Omas. Unruhestifter also, schlicht das, was man als unwürdige Alte bezeichnet und vor denen sich die eigenen Kinder immer schon gefürchtet haben. Jene, die nie ihren Frieden geschlossen haben mit dieser Welt und ihrer üblen Verfasstheit. Es ist also kein Ageism, dem wir aufgesessen sind, sondern höchstens einem Vorurteil: dass uns der Mainstream von Rechtschaffenheit, Präpotenz und Dummheit zuwider ist. Und es gilt: die Alten sind unterschiedlicher als je zuvor.

Schön aber ist trotz der Beobachtung der eigenen Hinfälligkeit: Niemand kann uns mehr etwas anhaben, nicht einmal Wagenladungen rechtschaffener Senioren. Für solchen Krimskrams sind wir schon zu alt.

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