Vater, Tod und Therapie

Tod

Ein Jahr. Ein Jahr habe ich dich nicht gesehen. Ein Jahr nicht mit dir gesprochen. Ein Jahr dich nicht umarmt. Dein Gesicht nicht gesehen. Dein Lachen nicht gehört. Und auch deine Stimme nicht.

Weil du tot bist.

Ein Jahr lang habe ich getrauert. Immer wieder geweint. Ein Jahr war ich immer wieder wütend. Auf dich. Auf das, was du getan hast. Auf das, was es mit uns macht, dass du uns verlassen hast.

Ein Jahr habe ich gekämpft. Gekämpft darum zu akzeptieren. Damit zurechtzukommen. Nicht unterzugehen. Nicht zu verzweifeln. Wut und Trauer gleichermassen zuzulassen. Selbst wieder zu heilen.

Ein Jahr Erinnerungen. Plötzlich dein Gesicht vor Augen. Die Erinnerung an deine Stimme. Fotos aus Zeiten, wo es dir gut ging. Wo du gelacht hast. Wie eigenartig es ist, eine alte Sprachnachricht von dir zu hören! Als wärst du lebendig. Als wärst du noch da und alles normal. Und immer wieder scheinst du gar nicht tot zu sein.

Und doch ist da ein Ende. Dein Name ist in den Nachrichten ganz nach unten gerutscht. Ein Jahr nach unten. Vor einem Jahr hast du mir die letzte Nachricht geschickt. Ein grosses, rotes, pulsierendes Herz. Deine Antwort auf meine Bitte, dass du dir Hilfe holst. Aber es war schon zu spät. Dein Entschluss war längst gefasst.

Immer wieder öffne ich die Nachricht und schaue mir das Herz an.

Das war dein Abschied.

An meinem Geburtstag.

Ein Tag, bevor du dir das Leben nahmst.

Ich glaube, du hast mich geliebt.

Und auch ich habe dich geliebt, kleine Schwester.

Machs gut, Didi. 

#Tod

Warum hast du uns verlassen?

Ich fühle die letzte Umarmung in meinem Körper. Die Lebendigkeit deines Körpers an meinem. Da war noch ein letzter Rest von Leben in dir.

Ein Aufschrei. Ein stummes Schreien nach Halt. Eine Trauer.

Schmerzende Lebendigkeit.

Da warst du noch nicht tot.

Aber du konntest dein Inneres nicht artikulieren. Du konntest deinem Schmerz und deiner Verzweiflung keine Stimme geben. Du konntest nicht um Hilfe bitten.

Ich wusste nichts von deinem Schmerz.

Das war unser Abschied. Eine letzte, lange Umarmung. Schwere und Nähe.

Die Umarmung ist in meinem Körper gespeichert. Sie ist fühlbar und bringt Tränen der Erinnerung hervor. Erinnerung an Beziehung und immer mehr verblassender Nähe.

Du warst meine Schwester. Du warst meine beste Freundin, damals, für lange Zeit.

Ich habe dich geliebt. Ich wollte dir nahe sein. Ich teilte mein Innerstes mit dir. Legte alles offen. Alle Heilung. Alle Veränderung.

Aber du behieltest dein Inneres verschlossen. Eingeschlossen und unsichtbar. Unfühlbar für dich und für die um dich herum. Du konntest die Tür nicht aufmachen zu deinem Inneren. Zu deinem Schmerz.

Ich wollte dir helfen. Aber du liessest es nicht zu.

Zwei Tage vor deinem Tod warst du schon tot. Du warst da, ich sah dich ein letztes Mal. Aber du warst leer, nur noch eine menschliche Hülle.

Ohne Lebendigkeit. Ohne Gefühle. Ohne Hoffnung. Ohne Liebe.

Ich brachte kein Wort heraus. Konnte nichts sagen. Da war eine dicke Mauer der Unlebendigkeit und Abgestelltheit um dich herum. Du warst nicht mehr erreichbar. Innerlich schon im Grab.

Ich wusste nicht, was kommen würde.

Am nächsten Tag war mein Geburtstag.

Ich feierte ihn unwissend dessen, was am folgenden Tag geschehen würde. Ich hätte bei dir sein sollen. In deiner Nähe. Dich halten und von der schrecklichen Tat abhalten. Dich schützen und retten. Dir Heilung verschaffen.

Aber ich konnte es nicht.

Niemand wusste, was du geplant hattest, minutiös, bis ins letzte, tödliche Detail. Du stelltest sicher, dass niemand dich retten konnte. Du hast deine Nächsten an diesem Tag von dir ferngehalten. Du hast sie angelogen, damit sie deinen Entschluss nicht zunichte machen konnten.

Du gingst in die Waschküche. Du schlossest die Tür von innen. Du nahmst Tabletten.

Du spritztest dir drei verschiedene Medikamente. Ich kann mich nicht an alle Namen erinnern.

Du hast dich dreifach umgebracht.

Wie einsam musst du gewesen sein, als du deinen letzten Gang machtest die Treppen hinunter in den Keller. Wie konntest du noch gehen, im Wissen, dass du nie wieder das Tageslicht sehen würdest? Was hast du gefühlt, als du mit zitternden Händen dir selbst einen Zugang legtest?

Einen Zugang zum Todesgift?

Was hast du gefühlt, als du alles getan hattest und da auf dem kalten Boden lagst und auf den Tod gewartet hast? Als du die Müdigkeit kommen spürtest? Und wusstest, dass es kein Zurück gibt? Hast du die Endgültigkeit gespürt?

Du lagst da, tot.

Und ich wusste es nicht. Mein Leben ging weiter. Während du da lagst und uns verlassen hattest. Den ganzen Tag. Die ganze Nacht. Ich habe nichts gewusst. Ich habe nichts gespürt.

Ich habe nicht gespürt, dass du tot bist.

Der Schock am nächsten Morgen, früh, aus dem Schlaf geweckt. Der tieftraurige Blick meines Mannes, das Telefon in der Hand. Die unfassbare Trauer in der Stimme meiner Mutter. Der Schock, der wie eine Kugel in meinen Körper hineinfährt und dort stecken bleibt.

“Sie ist tot. Sie hat sich das Leben genommen.”

“Wo ist sie? Ich will zu ihr!”

Das war mein einziger Wunsch. Aber er wurde mir verwehrt.

Ich wollte nur eins: Dich sehen. In deiner Nähe sein. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht zu dir. Nie mehr.

Du warst weggeschlossen, in einem unzugänglichen Raum. Und dann wurde dein Körper verbrannt, ohne, dass ich es wollte.

Ich hatte nicht die Kraft, für mein Bedürfnis zu kämpfen.

Alles, was übrig blieb, war ein Gefäss voller Asche. Ein schweres Gefäss. So schwer wie du. Aber es hatte nicht deine Form. Du wurdest unkenntlich.

Ich erkannte dich nicht, obwohl ich ins offene Grab reichte und ein letztes Mal mit meiner Hand deine Überreste berührte.

Ich fühlte nichts von dir.

Jetzt gibt es da ein Kreuz mit deinem Namen. Mit deinem Geburtsdatum und deinem Todestag. Du wurdest einundvierzig Jahre alt.

Ich besuche dich. Ich zünde im dunkeln eine Laterne an, mit einer grossen, weissen Kerze, die in der kalten Winternacht Wärme gibt.

Ich sitze bei dir und wärme meine Hände über der Kerze. Tränen fallen auf das Grab. Ich friere.

Ich bin dir nicht nahe. Denn du bist nicht mehr da.

Du bist nicht mehr.

#Tod

In einer einzigen Sekunde erschüttert der Schock mein ganzes Ich. Meine Seele. Meinen Körper.

Der Schock dringt in jede Faser und jede Zelle meines Körpers ein und steckt darin fest. Wie kann ich davon erlöst werden?

Die Last ist zerstörend.

Der Schock verändert meinen Körper. Er lässt meine Haare ergrauen und ausfallen. Er hinterlässt ein dunkles Grauen, das mir den Appetit nimmt.

Eine Hilflosigkeit. Eine Machtlosigkeit. Hilflose Wut.

Da ist nichts mehr. Sie ist weg. Ab heute für immer. Das Ende ist unfassbar. Schwarz und tief.

Und leer.

So unwiderruflich endgültig. Alles Leben, alles Mühen, alle Selbstfürsorge, alle Liebe abgewürgt. Gewaltsam beendet und für nichtig erklärt.

Alle Beziehungen laufen ins Leere. Hängen über dem Abgrund, abgerissen.

Verloren, verzweifelt. Verlassen.

Sie hat uns verlassen. Absichtlich. Ohne uns zu fragen, ob auch wir die Beziehung beenden wollen.

Sie hat ihre Kinder im Stich gelassen. Hat sie verdammt zu Trauma und Schmerz. Zu einem unausfüllbaren, immer weh tuenden tiefen, bodenlosen Loch, das nie weggehen wird.

Da, wo sie war, ist Leere. Die unaushaltbare Leere, die sie fühlte, hat sie in ihrem ungeheilten Schmerz ihren Liebsten wiederum weitergegeben, in einer noch grauenvolleren, noch unfassbareren Art. Der Schmerz, den sie fühlte, hat sie jetzt uns zugefügt.

Uns, die wir leben. Uns, den Lebendigen, die bleiben und nicht aufgeben. Die kämpfen um Heilung und Liebe. Um Lebendigkeit.

Und Stück für Stück wird der Schock mit den Tränen aus dem Körper herausgeschwemmt. Ganz langsam. Und nicht vorhersehbar. Immer wieder.

Ganz unerwartet passiert es heute Morgen. Die Erinnerung an sie wird an einem unvorhergesehenen Ort wachgerufen. Und die Trauer erkämpft sich ihren Platz, ob es passt oder nicht. Für einige Stunden kommt der Schmerz unaufhaltbar an die Oberfläche.

Tränen. Weinen. Sehnsucht.

Bis irgendwann sich der Körper und die Seele wieder leicht anfühlt und der Schmerz sich zu einer tragbaren Intensität entwickelt hat.

Der Schmerz wird immer zu mir gehören. Er ist jetzt Teil von mir. Es ist etwas dazugekommen, ungewollt, womit ich leben muss. Es muss integriert werden.

Ich bin ich. Der Schmerz gehört nicht ihr. Er wird nicht von ihr bestimmt. Nicht sie verarbeitet den Schmerz, sie, die sich geweigert hat, ihren eigenen Schmerz zu verarbeiten.

Der Schmerz gehört mir. Und ich verarbeite ihn in meinem ureigenen Ich. Ich mache ihn mir zu eigen und lasse mich heilen.

Auch diesen zweiten Schmerz über diesen zweiten Verlust.

Genau wie den ersten.

#Tod