Luisa

von Konrad

Er braucht sie nicht zu suchen. Er findet sie. Möglichkeiten, poröse Stellen, Durchgänge. Dann schlägt er zu.

Der nächtliche Himmel ist wolkenverhangen, kein Mond und kein Stern leuchten von oben. Neben ihr liegt das Wäldchen, von dem sie nur die vorderen Büsche und Bäume ausmachen kann, bevor die Dunkelheit alle Konturen verschluckt. Auf der anderen Seite ihres Weges fließt der Fluss, träge wie ein perfekter, schwarzer Spiegel. Die Lampen am Ufer scheinen heute schwächer und stehen viel weiter auseinander als sonst, nur kleine Inseln aus trübem Licht. Luisa ist froh dass Karlchen bei ihr ist. Der riesige Dobermann trottet von links nach rechts, schnüffelt und markiert und scheint sie immer im Blick zu behalten. Karlchen passt auf sie auf. Immer. Sie hat einen Verbündeten. Sie ist den Weg in den letzten Jahren immer und immer wieder gelaufen. Die letzte Runde mit dem Hund geht meistens sie. Am Fluss entlang, zehn Minuten hin, zehn Minuten zurück, sodass Karlchen pinkeln und rennen kann, perfekt. Nur heute ist es ihr etwas zu einsam, zu dunkel, zu schwarz hier unten. Zum ersten mal fragt sie sich, was sich alles im Wald verstecken könnte. Ob da etwas auf sie lauert. Oder jemand… „Karlchen, komm her bei Fuß!“ Sie hört ihre eigene Stimme, die dünn und belegt klingt und viel von ihrer sonstigen Kraft eingebüßt hat. Wahrscheinlich macht sie sich unnötige Sorgen wegen dem, was Sophia ihr vorhin erzählt hat. Wegen dem, was angeblich in der Schule passiert ist. „In unserer Dusche, in der Sporthalle ist ein toter Junge gefunden worden. Vom Hausmeister oder so. Das muss ja gewesen sein, als wir gerade raus waren, stell dir das mal vor! Was? Dieser Dicke, ich hab den immer mal gesehen in der Pause. Hat immer so blöd geglotzt, war son Creep. Sein Gesicht war weggefressen und die ganze Dusche war voller Blut und jetzt ist die Sporthalle gesperrt und wir können nicht mehr trainieren und Käfer waren überall und die Kriminalpolizei war da und die SV versucht, dass wir jetzt die Klausur nächste Woche beim Seim verschieben, wer kann sich denn jetzt auf die Weimarer Verfassung konzentrieren, wenn man beim duschen selbst fast hätte draufgehen können und Kreisliga können wir auch vergessen und ich habe unsere Türkette tausendmal oder so kontrolliert… „ Sophia war völlig aufgelöst und hatte geweint und Luisa hat sich davon anstecken lassen. Wie auch nicht. Erst hinterher kamen ihr ein paar Zweifel an der Geschichte. „Sein Gesicht war weggefressen“. Was hat der eigentlich in der Sporthalle zu suchen, in der 4.-6. ist da Dienstags doch abgeschlossen. Warum Käfer und wer sollte den eigentlich umbringen und warum und wer war das und warum die Mädchendusche? Luisa hat beschlossen, abzuwarten, was morgen in der Schule erzählt wird, wahrscheinlich stimmt an der Geschichte vieles nicht. Tief durchatmen, das hat nichts mit dir zu tun. Wahrscheinlich ist gar keiner tot. „Sein Gesicht war weggefressen“. Vielleicht ist Sophia einer Verarsche aufgesessen. Oder durchgeknallt. Aber Luisa hat ihr zugehört. Hat die Geschichte in ihren Kopf gelassen. Diese Geschichte, die stärker ist als alle beruhigenden Gedanken. Und jetzt steht sie hier. Allein. Einsam. Auf dem Weg, den sie schon tausende Male gegangen ist und wo nie nie nie irgendetwas Außergewöhnliches passiert ist. Das hilft nicht gegen das Dunkel, das von den eigenen Gedanken belebt und mit Augen, Zähnen und rostigen Messern in blutigen Händen versehen wird. „Sein Gesicht war weggefressen“, verdammte Scheiße. Luisa läuft es kalt den Rücken herunter. „Karlchen komm, wir gehen zurück“ Der Hund steht wie versteinert und starrt zur Bootsschleuse. Sie ruft ihn noch mal. Und noch mal. Er kommt sofort, wenn sie ihn ruft, folgt aufs Wort. An allen anderen Tagen. An Tagen, an denen niemandem sein Gesicht… „Karlchen, hierher, sofort! „ Der Hund rennt los, allerdings in die andere Richtung, in einer geraden Linie zur Schleuse hin. Luisa rennt ihm nach, aber Karlchen ist natürlich viel schneller. Sie sieht ihn kurz am Rand des Schleusenbeckens, eine verschwommene, dunkle Kontur, dann ist er weg. Ist er reingefallen? Luisa denkt nicht mehr, sie rennt zur Schleuse, drückt den Bauzaun beiseite, steigt über große Werkzeuge und Absperrbänder und steht schließlich am Rand. Meterweit unter ihr ist der Boden der Schleuse im funzeligen, flackernden Licht kaum zu sehen. „Karlchen? Karlchen?“ Kein Geräusch. Oder waren da doch vielleicht ein leises Plätschern und Winseln? Sie muss ihn finden. Sonst ist sie allein hier draußen. „Karlchen!“ Er nähert sich. Die dunkelbraunen Schuhe sinken im Matsch ein bis zur den dünnen, schwarzen Socken. Nicht die winzigste Menge Schmutz haftet daran, wenn er sie wieder hebt. Kein Schmatzen, Rascheln oder knacken begleitet seine Schritte. Er sieht sie. Fühlt sie. Spürt ihre Aufregung, Angst und beginnende Verzweiflung. Sie ist diesem Vieh gefolgt, wie er es wünschte. Es wird Zeit. Er ruft SIE herbei. Weckt IHRE Instinkte. Füllt sie mit Blutdurst. Das dumme Ding ist halb um das Becken gerannt. Steht ihm genau gegenüber, starrt nach unten und ruft nach dem Vieh. Eine angedeutete „komm-her-Geste“ seiner perfekt gepflegten Hände reicht.

Luisa rutscht auf dem metallenen Rand aus und stürzt in die schwarze Tiefe des Schleusenbeckens. Ihre Hände greifen ins Leere, ihr Bauch krampft sich zusammen. Bevor sie Zeit zum schreien hat, schlägt sie auf. Das Restwasser und der darunterliegende Schlamm verschlucken und umklammern ihren gesamten Körper mit eiskalten Klauen. Trotzdem ist der Aufprall vernichtend schmerzhaft. Schock und Panik übernehmen. Luisa fängt an zu strampeln und zu zappeln. Sie ist umgeben von nassem, stinkendem Schlamm. Sie kann nicht heraus, weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, windet sich und versucht, zurück an die Luft zu kommen. Nur nicht einatmen, dann ist es vorbei. Jede Bewegung braucht viel Kraft, kostet Luft. Alles ist Kälte. Alles ist Nässe. Ihre Gedanken schreien. Sie dreht sich ruckartig, rudert und strampelt, krümmt sich. Plötzlich ist ihr Gesicht in der Nachtluft. Luisa prustet und spuckt, atmet endlich frische Luft in ihre brennenden Lungen. Sie versucht, den widerlich stinkenden Schlamm aus den Augen und der Nase zu bekommen, kniet bis zum Becken im eiskalten Sumpf und sinkt langsam wieder tiefer nach unten. Ohne Warnung schießt ihr heiße, saure Flüssigkeit in Hals und Mund. Immer noch damit beschäftigt, den Modder aus den Augen zu bekommen, kotzt sie auf ihre Jacke ohne sich auch nur nach vorne zu beugen. Warm und schleimig läuft es an ihrem Hals herunter. Endlich kann sie wieder etwas sehen, wenn auch nicht viel. Der Schein der flackernden Lampe am Rand des Beckens, der jetzt so weit und so dunkel über ihr liegt, kommt hier unten nur schwach an. Momentaufnahmen, kein Film, nur einzelne Bilder. Trotzdem nimmt sie etwas vor sich wahr. Zunächst hält sie es für einen Stock, aber das passt nicht. Außerdem bewegt sich das Ding mit kleinen, ruckartigen Bewegungen. Sie braucht noch einen Atemzug und drei mal Aufleuchten der Lampe um zu erkennen, dass es sich um ein dünnes Bein mit einer Hundepfote am Ende handelt. Karlchen. Luisa arbeitet sich sofort auf den Hund zu. Schlammtretend, halb schwimmend und vor Anstrengung stöhnend kommt sie näher. Als sie, nach einer kleinen Ewigkeit, endlich an dem eingesunkenen Hund ankommt, will sie ihn so schnell wie möglich aus dem Schlamm ziehen. „Karlchen, ich bin da, alles gut“, würgt sie noch hervor. Dann packt sie beherzt zu und zieht mit aller Kraft an Karlchens Bein. Und kippt sofort nach hinten in die Brühe zurück. Wieder Gestank, wieder den Kopf unter brackigem Wasser. Sie richtet sich mühsam auf und hebt langsam den Arm. In ihrer Hand hält sie Karlchens Bein und einen Teil seines Oberschenkels, der in Fetzen endet. Immer wieder belichtet die Lampe dasselbe, grausige Bild. Dickflüssige Tropfen rinnen aus dem zerfetzten, blutigen Fleisch und platschen wie Regen auf das Wasser. Luisa schreit gellend auf. Sie schleudert das Bein in die Dunkelheit, ohne es überhaupt zu merken. Sie gibt der übermächtigen, alles gleichmachenden Panik nach, presst die Hände auf die Ohren und schreit wie nie in ihrem Leben zuvor. Sie spürt die Veränderung, fühlt, dass etwas auf sie zukommt. Ihr Schrei verstirbt zu einem Wimmern, als sie vor sich im dunklen Wasser ein Plätschern bemerkt. Und nicht nur vor sich. Rings um sie herum kräuselt sich die Wasseroberfläche, als würde sie plötzlich kochen. Gelähmt starrt sie mit weit aufgerissenen Augen auf die brodelnde, schlammige Flüssigkeit. Überall ist plötzlich beunruhigend lebendige Bewegung, schlängelnde Düsternis. Etwas streicht an ihrer Hose und der Hand entlang. Kalt und glitschig. Sie zuckt zusammen, setzt sich aprupt in Bewegung. „Leiter, Leiter“ ist der einzige Gedanke, der es bis ganz vorne in ihr Denken schafft. Jede Schleuse hat Leitern und nur so kommt sie raus aus diesem nassen, kalten Alptraum. Raus aus diesem lebenden Grab. Weg von dem, was mit tausend Leibern auf sie zukommt. Sie hat sich gerade zur Seite gelehnt, als sie in die Hand gebissen wird. Wie ein Schlag durchzuckt es sie bis zur Schulter. Mit einem spitzen Schrei reißt sie die Hand aus dem Wasser und sieht den glitschigen Aal, der sich in ihre Hand verbissen hat. Immer wieder erleuchtet von einem trüben Lichtblitz der Lampe starrt sie auf die Bildershow des Grauens. Licht: trübe, bösartige Augen. Licht: kleine, spitze Zähne in ihrem eigenen Fleisch. Licht: ein dunkler Strom aus Blut, der aus ihrer Hand über den Kopf des Viehs läuft. Licht: die gierige, schlängelnde Reißbewegung. Schmerz. Der Aal, oder die Muräne oder die Scheißschlange zieht sich zusammen, kontrahiert in die eine und wieder in die andere Richtung. Will das erbeutete Stück losreißen, fetzen, fressen. Er will das frische, warme Fleisch. Sie greift nach dem Vieh. Greift um einen schmierigen, kalten Muskel, der ihr sofort wieder entgleitet und seinen Biss noch verstärkt. Sie versucht es noch mal, ihre Hand rutsch sofort ab. Sie muss raus, schießt es ihr wieder durch den Kopf. Luisa hat keine Gelegenheit mehr, auch nur einen Zentimeter näher an die Leiter zu gelangen. Der hungrige, gierige Schwarm, in dessen Mitte sie schutzlos kniet, greift an. Alle gleichzeitig. Aale Muränen, glitschiges, wimmelndes, tausende Zähne. Die Bisse werden dichter, schneller, schmerzhafter. Reißende Haut, zerfasernde Muskeln. Luisa bäumt sich schreiend auf, verliert den Halt, stürzt nach hinten und wird sofort attackiert. Beine, Bauch, Achseln, Ohren. Mäuler voll Zähne erkämpfen ihren Teil aus dem zappelnden Opfer. Luisa weiß in einem plötzlichen Moment der Ruhe, dass sie so nicht mehr lange leben wird. Sie atmet ein, schließt die Augen und spürt noch, wie rasende Kreaturen beginnen, ihr Gesicht anzufressen. Dann spürt sie es in sich aufsteigen. Ein gleißend heller Strahl puren Lichts blitzt in den Nachthimmel. Er verdampft alles auf seinem Weg, stanzt ein rechteckiges Loch in die Wolken und die Atmosphäre. Für eine Femtosekunde überstrahlt die Energie alles andere. Dann versinkt die Welt wieder im nächtlichen Dunkel. Plötzlich aufkommende Windböen fauchen der kochenden Luft hinterher, reißen lose Gegenstände mit sich und gewinnen immer mehr an Kraft und Lautstärke. Am Boden der Schleuse dagegen ist es totenstill. Nur das leise „ting ting ting“ abkühlender Steine ist zu hören. Es stinkt nach gebrannter Erde und verbranntem Fisch. Der Strom in weitem Umkreis ist ausgefallen und somit auch die Lampe endlich und endgültig verloschen. Luisas Augen reflektieren das rote Schimmern des glühenden Metalls der Leiter. Sie steht im Zentrum des leeren Beckens und lächelt kaum merklich. Sie steht leicht nach vorne gebeugt, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Haut ist makellos, ohne den kleinsten Kratzer, ohne den leichtesten Biss. Ein kühler Windhauch erfasst sie und nimmt eine dünne Fahne grauen Staubs aus ihren Haaren mit sich. Langsam setzt sie sich in Bewegung. Sie hört ihren hallenden Schritte auf dem hartgebrannten, sterilen Boden zu. Die immer noch glühenden Leitersprossen fühlen sich angenehm warm an, als sie beginnt, nach oben zu klettern.

Er duckt sich tiefer hinter den Ästen als er hört, dass sie nach oben kommt. Jetzt will ihr nicht noch einmal begegnen. Nicht heute. Sie hat ihn überrascht. Ungestüme, ungezügelte Kraft. Jugend. Sie war dicht dran und hatte es nicht mal auf ihn abgesehen. Nur mit Mühe war er schneller, hat sich um den großen Strang gewunden. Sie geht in die andere Richtung. Entfernt sich. Nimmt seine Schwäche mit. Er trinkt einen Schluck. Reines, eiskaltes Wasser, lässt sie nicht aus den blauen Augen, bis sie in der Dunkelheit verschwunden ist. Dann wartet er noch länger ab. In der anderen Hand hält er das zerfressene Hundebein. Das langsam gerinnende Blut tropft träge und unablässig. In einem unmöglichen Winkel genau an der blauen Stoffhose und den Lederschuhen vorbei auf den Waldboden. Er lässt sich vom Dunkel verschlucken, entfernt sich über Geäst und Blätter, ohne das kleinste Geräusch zu produzieren.