Schiffbruch des Selbst: Notizen zu Robinson Crusoe und der Logik des Fortschritts

von Steffen

Unhörbare Radio-Hits schallen aus den stoßfesten Lautsprechern der Handwerker im Erdgeschoss gegenüber der Straße. Sie bohren, hämmern, schleifen, meißeln, schrauben, schaben, schaufeln, waschen sich die Hände und legen sich nieder um es dann noch einmal tun zu können. Nur so kann alles werden, die Substanz des Zivilen muss jeden Tag verteidigt, bestätigt und ausgebaut werden. Fortschritt, so könnte man fast meinen, ist die humanste Form des Krieges aus dem es keinen Ausweg gibt, denn Stillstand ist zu nah am heute geläufigen Verständnis des Totseins. Doch wer steht uns als Feind gegenüber in diesem unsichtbaren Kampf?

Mit dieser Frage und mit diesem Totsein sieht sich der auf einer scheinbar unbewohnten Insel gestrandete Robinson Crusoe konfrontiert. Die tropische Insel, Teil eines winzigen Atolls vor der Küste Venezuelas, ist die Antithese zum westlichen Fortschrittsglauben und der Inbegriff zeitloser und statischer Primitivität. Nachdem er Werkzeuge, Nahrung, Waffen und andere nützliche Gegenstände aus dem in der Brandung liegenden Schiff geborgen hat, beginnt er umgehend mit der Errichtung von Gebäuden, Schutzwällen sowie der Urbarmachung des Bodens und Domestizierung von wilden Ziegen und anderen Tieren. Dass es schließlich Jahre und Jahrzehnte dauert diese solitäre Zivilisation aufzubauen, ist dabei kein Hindernis sondern ein glücklicher Umstand für den Schiffbrüchigen. Es ist Defoes Parabel auf die Kraft des Einzelnen in der Überwindung von Mühsal und Not, die Notwendigkeit des Fortschritts und die Früchte von Kapital und Arbeit—alles zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans im Jahr 1719 relativ neue Konzepte.

Durch die stete Verbesserung seiner Lebensumstände erfindet der Gestrandete noch einmal die Zeit: für sich selbst aber noch mehr für die Insel als Ganzes. Er definiert einen Nullmeridian, eine Zeitachse und ein Koordinatensystem in denen er sich und den Fortgang seiner Projekte verorten kann. Mehr noch als sein bloßes Überleben zu sichern entgrenzt Crusoe sich dadurch von der mittelalterlichen Idee einer göttlichen Ordnung, eines vorgezeichneten Schicksals, der kontemplativen Weltenschau und nicht zuletzt der Ächtung von Privatbesitz und Konsum. Für den Gestrandeten wird die Logik des Fortschritts zum Selbstschutzmechanismus der gleichgesetzt ist mit dem Erhalt seiner Menschlichkeit. Mehr noch als schiere Subsistenz zeigen Defoes oft langwierige und detaillierte Schilderungen die Werdung eines neuen Menschen.

Die koloniale Logik dieser neuzeitlichen Schöpfungsgeschichte im tropisch-irdischen Paradies diktiert für Homo Robinsoniensis statt der sündigen Frau den fortschrittsfeindlichen Wilden als Gegenpart. Dort droht einerseits der Stillstand als Auflösung des westlichen Ichs und damit der Regress in den Zustand einer zeitlosen und daher sinnlosen Halbmenschlichkeit, verkörpert durch Freitag und seine kannibalischen Stammesgenossen. Andererseits ist die Notwendigkeit des Fortschritts ohne dieses Spiegelbild weder definier- noch messbar.

Die Räume des vermeintlichen Rück- und Stillstands—die Tropen, der Orient und all jene mit dem Begriff “Entwicklungsland” Gebrandmarkten—bieten endlich auch die moralische Rechtfertigung für den Zwang nach Innovation and Wachstum. So erscheint es vielen als Verpflichtung deren Bewohner nach dem eigenen Vorbild zu erziehen, dass heißt sie aus den Fallstricken ihrer als unzeitgemäß oder verwerflich empfundenen Traditionen zu “entwickeln”—im Idealfall durch den Konsum materieller und kultureller Güter aus der bereits entwickelten Welt. Der Ausweg aus dieser Logik, das erkennt der Gestrandete schon bald nach seiner Ankunft auf der Insel, besteht entweder in der Vernichtung allen nicht Entwickelbaren oder der Anerkenntnis nicht bloß des Schiffbruchs seiner Person, sondern des Schiffbruchs des fortschrittsgläubigen Selbst.