Ralf Rothmann, DIE NACHT UNTERM SCHNEE, Berlin, 2022

Cover von “Die Nacht unterm Schnee” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

“Die Nacht unterm Schnee” ist ein Roman, der weh tut, denn er ist kalt, brutal und hart, zieht damit aber auch in Bann, fasziniert und schafft Momente der Unterhaltung. “Die Nacht unterm Schnee” ist ein sperriges Stück Literatur, das es tatsächlich schafft, die traumatisierenden Folgen des II. Krieges für Kinder und deren Kinder zu beschreiben, ohne sich eines falschen Pathos zu bedienen oder von einer falschen Betroffenheit zu nähren. Die Sprache, die der Autor für dieses Thema gewählt hat, musste er sicher nicht lange suchen, auch in anderen Romanen tönt sie ausgewogen und ohne jede Effekthascherei durch die Geschichten, aber wahrscheinlich hat sie selten so gut zum Thema gepasst wie in diesem Fall. Er berichtet gleichzeitig distanziert und detailgenau von Mord und Totschlag, Vergewaltigung und eher banaleren physischen und psychischen Gräueltaten, wie es sonst wahrscheinlich nur die Opfer und Augenzeug:innen selbst tun, wenn sie über ihre Erlebnisse berichten, als wären sie anderen passiert. Gerade diese Selbstschutzmechanismen legt Rothmann offen, ohne sie offensichtlich zu thematisieren.

Die ganze Geschichte beginnt 1945 im Schnee und behandelt das deutsche Kriegstrauma per se – die Flucht vor der Roten Armee aus den damaligen Ostgebieten anhand der Lebensgeschichte eines damals 16-jährigen Mädchens. Sie überlebt die Flucht und beginnt für eine Familie zu arbeiten, deren Tochter, den sorgloseren Gegenpart zu ihr im Roman einnimmt. Beide bleiben auf Lebzeiten miteinander verbunden, mal mit weniger, mal mit mehr Abstand, sowohl zeitlich als auch emotional. Es findet zwar eine Entfremdung statt, aber diese kann das Band – trotz aller zwischenmenschlicher Probleme – das zwischen diesen beiden Frauen besteht, nicht kappen. Immer wieder halten sich die beiden gegenseitig einen Spiegel vor, und die Leserinnen können darin im übertragenen Sinn beide Gesichter des Nachkriegsdeutschlands sehen, die jeweils mit ihren ganz eigenen Verdrängungsmechanismen und Lügenkonstrukten zu kämpfen haben.

Rothmann gelingt – oh Wunder – ein unzeitgemäßer Roman, dass viel über die Fundamente unseres Landes und unserer Verfasstheit als Täterstaat zu berichten weiß. Vor allem die Sprachlosigkeit derer, die aus dem II. Weltkrieg als relativ Unversehrte oder zumindest Privilegierte hervorgegangen sind, gegenüber denen, die es schwerer hatten, arbeitet er kunstvoll heraus.