PARALLELAKTION

hier schreibe ich über meine Leseerfahrungen – irgendwo zwischen Kunst, Soziologie, Philosophie, Politik und Trivialem

Cover von “Die Nacht unterm Schnee” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

“Die Nacht unterm Schnee” ist ein Roman, der weh tut, denn er ist kalt, brutal und hart, zieht damit aber auch in Bann, fasziniert und schafft Momente der Unterhaltung. “Die Nacht unterm Schnee” ist ein sperriges Stück Literatur, das es tatsächlich schafft, die traumatisierenden Folgen des II. Krieges für Kinder und deren Kinder zu beschreiben, ohne sich eines falschen Pathos zu bedienen oder von einer falschen Betroffenheit zu nähren. Die Sprache, die der Autor für dieses Thema gewählt hat, musste er sicher nicht lange suchen, auch in anderen Romanen tönt sie ausgewogen und ohne jede Effekthascherei durch die Geschichten, aber wahrscheinlich hat sie selten so gut zum Thema gepasst wie in diesem Fall. Er berichtet gleichzeitig distanziert und detailgenau von Mord und Totschlag, Vergewaltigung und eher banaleren physischen und psychischen Gräueltaten, wie es sonst wahrscheinlich nur die Opfer und Augenzeug:innen selbst tun, wenn sie über ihre Erlebnisse berichten, als wären sie anderen passiert. Gerade diese Selbstschutzmechanismen legt Rothmann offen, ohne sie offensichtlich zu thematisieren.

Die ganze Geschichte beginnt 1945 im Schnee und behandelt das deutsche Kriegstrauma per se – die Flucht vor der Roten Armee aus den damaligen Ostgebieten anhand der Lebensgeschichte eines damals 16-jährigen Mädchens. Sie überlebt die Flucht und beginnt für eine Familie zu arbeiten, deren Tochter, den sorgloseren Gegenpart zu ihr im Roman einnimmt. Beide bleiben auf Lebzeiten miteinander verbunden, mal mit weniger, mal mit mehr Abstand, sowohl zeitlich als auch emotional. Es findet zwar eine Entfremdung statt, aber diese kann das Band – trotz aller zwischenmenschlicher Probleme – das zwischen diesen beiden Frauen besteht, nicht kappen. Immer wieder halten sich die beiden gegenseitig einen Spiegel vor, und die Leserinnen können darin im übertragenen Sinn beide Gesichter des Nachkriegsdeutschlands sehen, die jeweils mit ihren ganz eigenen Verdrängungsmechanismen und Lügenkonstrukten zu kämpfen haben.

Rothmann gelingt – oh Wunder – ein unzeitgemäßer Roman, dass viel über die Fundamente unseres Landes und unserer Verfasstheit als Täterstaat zu berichten weiß. Vor allem die Sprachlosigkeit derer, die aus dem II. Weltkrieg als relativ Unversehrte oder zumindest Privilegierte hervorgegangen sind, gegenüber denen, die es schwerer hatten, arbeitet er kunstvoll heraus.

Cover von “Noch Wach?” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

Der Autor löst bei mir ein generationales „Ach ja, den gibt’s ja auch noch”-Kopfnicken aus. Ein gewisses Maß an unbegründeter Überheblichkeit schwingt da immer mit, so als könnte er etwas dafür, dass er nun auch keine 30 mehr ist, aus einem Jungstar ein alter Platzhirsch geworden ist, einer also, dem man diesen Umstand – wenn man von der Stoßrichtung des Romans bereits gehört hatte – auch vorwerfen könnte. Das Buch liest sich dann jedoch wie ein typischer Stuckrad-Barre. Flüssig und nebenher, mit einem großen Unterhaltungs- und Identifikationsfaktor. Die Charaktere sind wie immer flacherer Natur und sind daher vielleicht so leicht zu verstehen. Der Plot ist wie so oft „aus dem Leben gegriffen“, folgt aber dieses Mal eher den großen Erzähllinien der letzten 10 Jahre, die von #metoo und dem Wackeln des Patriarchats (ob es jemals fällt, ist die Frage?) geprägt ist. Alles in allem bleibt der Autor sich so treu, dass es fast beängstigend ist. Er schreibt wie immer einen klassischen Nicht-Entwicklungsroman, in dem viel über Psychologie gesprochen wird, aber daraus nichts folgt. Die Welt ist nach Stuckrad-Barre eine materialistische, die von Popanz und Ignoranz, von Verdrängung, Vorteilsnahme, Missgunst und fehlendem Mut geprägt ist. Letztgenannte Eigenschaften bilden den literarischen Ur-Sud, den der Autor auf kleiner Flamme köcheln lässt. An jeder Blase, die da blubbernd, platzend vergeht, freut sich die Leser:innenschaft, doch was bleibt ist wie immer … nichts, nada, nothing. Allenfalls ein weiterer Roman der Generation X, der sich und seinen Angehörigen vergewissert, dass man auch mit über 40 noch genauso pathetisch nichts sagen kann, wie mit 20. Und dennoch ist „Noch wach?“ ein guter Roman, weil es ein wichtiges Thema behandelt und nicht frei von Selbstkritik (okay, das ist ja immer Teil der Pathogenese à la Stuckrad-Barre) gerade noch schafft ernst genommen werden zu können. Dass sich am Ende nichts ändert, die Täter weiterhin die Macht behalten und die Opfer, die sich gegen das System gewandt hatten, an der Perfidie des Systems (aka Realität) zerbrechen und nur die Wahl haben, sich in ein „weiter wie vorher oder den Untergang“ zu flüchten, könnte am Ende der beste Move des Autors gewesen sein. Warum? Weil ein Sieg im Buch unter Umständen darüber hinwegschauen ließ, dass in Wirklichkeit der Kampf gegen solche patriarchalen Systeme noch lange nicht gewonnen ist.

Cover von “OFFENE SEE” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

Dieser Roman kam sehr unverhofft auf meinen Nachttisch. Ein Geschenk zu Weihnachten von einem lieben Menschen, sodass ich einfach mal los gelesen habe, allzeit bereit, das Buch wieder wegzulegen und auf den Stapel der Bücher zu legen, die ich irgendwann mal fertig lesen möchte. Aber dann habe ich das Buch einfach nicht mehr weggelegt. Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein Junge aus einer Bergarbeiterstadt im Süden Englands geht auf Wanderschaft, trifft eine ältere Dame aus der Oberschicht und lernt von ihr alles, um seine proletarischen Fesseln abzustreifen, studieren zu gehen und Schriftsteller zu werden. Doch ganz so einfach ist die Geschichte dann doch nicht. Coming of age, rite de passage, Adoleszenzroman trifft es einfach nicht, denn es geht um mehr. Der Roman kreist um die unbändige Kraft der Poesie, an die zunächst weder der Held der Geschichte noch der Leser (also in dem Fall ich selbst) so richtig glauben mochte, Krieg und Nationalismus, Klassenkampf, Freundschaft zwischen einem jungen Mann und einer älteren Frau, Feminismus und Selbstbestimmtheit. Ein Füllhorn an schönen Geschichten breitet Benjamin Meyers aus in diesem Buch, das zudem sprachlich elegante Beobachtungen von Natur und Gesellschaft in großer Zahl bereithält. Einziger Wermutstropfen. Die Verwendung von Fremdwörtern lässt auf eine allzu kompensatorische Sprechhaltung schliessen und nervt stilistisch an ganz wenigen Stellen. Aber selbst das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein richtig gutes Buch handelt.

Cover von “Enemy Kids” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2023

Das kleine Büchlein wurde mir von jemandem empfohlen, der:die den Autor, seit Jahrzehnten kennt und mich mit einigen Hintergründen versorgen konnte, die sich mir als Nicht-Berliner:in und nicht an Graffiti-Interessiert:er ansonsten unter keinen Umständen erschlossen hätten. Offenkundig – die von Zeitzeugenschaft gesegneten, mögen mir meine Unkenntnis verzeihen – handelt es sich bei Bus126 um eine bekannte Persönlichkeit der späten 80er Jahre, die sich bereits in den späten 90er Jahren einen kurzen Moment in der literarischer Berühmtheit sonnen konnte, als eine noch bekanntere Graffiti-Größe Berlins seine Memoiren aufschreiben liess und ihn mit einem Kapitel bedachte. Gut weggekommen sei er zwar nicht, aber darum geht es Bus126 offenkundig nicht. Unbezahlte Rechnungen gibt es nicht, das Vergangene bleibt im Nebel eines Ortes und einer Zeit, die sich fernab jeglichen popkulturellen Interesses nicht weiterentwickelte. Die Westberliner Viertel ausserhalb der Künstler:innen und Kulturschaffendenzone sind bis heute ein realer Ort geblieben, dessen Realität weder Trost noch Zuflucht in Nostalgie findet. Die unbeantwortete Frage des Lektors im Nachwort, was ihn wohl getrieben haben mag, sich derart schonungslos seiner eigenen Geschichte zu stellen, erscheint mir vor allem auf Grund des komplett auserzählten Genres der “coming of age” Geschichte relevant.

Doch um was geht es? ENEMY KIDS ist die Geschichte des Autors und Sprayers aus Berlin, der schon in den 80er Jahren mit dem Künstlernamen Bus126 arbeitete. Das Buch bündelt einige Momente seines Lebens zu extrem konzentierten und ohne Opferpathos erzählten Mikrogeschichten. Die Sprache des Buches ist direkt und schnörkellos. Die einzelnen oft nur ein bis drei Seiten langen Kapitel funktionieren wie brutal gesetzte Schlaglichter, die ein Leben sichtbar machen, das von der Mehrheitsgesellschaft zumeist als schwierig bezeichnet worden wäre. Eine zerrüttete Familie, Gewalt durch die diversen Stiefväter, Drogenkonsum, Schlägereien und die anschließenden endlosen Fluchten durch ein Westberlin vor der Wiedervereinigung, das sind die literaturkritischen Pathologisierungsschubladen, denen sich Bus126 mit dem Furor desjenigen ausliefert, der es offenkundig erfolgreich geschafft hat seine eigene Geschichte und viele seiner Protagonisten zu überleben.

Auch wenn dieses Buch ohne größeren literarischen Geltungsdrang entstanden sein mag, so zeigt es dennoch einen Drang, der das Buch auszeichnet und besonders macht. Es zeigt die Abwesenheit von Privilegien einer Arbeiterklasse Westdeutschlands, deren räumliche Ausdehnungspotenz an den Mauern der damals noch real-existierenden Sozialismus oder der Hoffnungslosigkeit der ererbten Armut zerschellen musste. Um diesen Grenzen zu entgehen bleibt Bus126 nichts anderes übrig als ständig in Bewegung zu bleiben. Im Roman, wird daher die ekstatische Flucht oder die panische Suche zumeist von der Agonie des Schlafes abgewechselt. Die Freude des Zuschlagens geht auf in der Angst vor dem Geschlagenwerden. Am Ende wird Angst und Freude für den Ich-Erzähler zu ein und demselben.

Das Ende der sozialen Marktwirschaft kurz vor der Wiedervereinigung und der Aufstieg des alles verschlingenden Monstrums des Spätkapitalismus sind der ökonomische und systemische Rahmen, in dem sich Bus126 seine blutigen Nasen und zerschlagenen Knöchel holt. Selten habe ich so drastisch über eine vergessene Generation und eine vergessene Zeit gelesen. Fazit: Absolut lesenswert!

Zu bestellen bei Possible Books

Cover von “Unverfügbarkeit” bearbeitet mit https://simplify.thatsh.it/, 2022

Hartmut Rosa ist seit seinem Buch „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (2016) einer der produktivsten Stichwortgeber im aktuellen Diskurs geworden. Sein Steckenpferd ist, grob gesagt, die Entfremdungstheorie, nach Marx und Weber und die Frage nach dem Stellenwert der Arbeit in unseren spätmodernen Gesellschaften.

Wer sich mit Rosa näher beschäftigen will dem sei sein 2018 bei Suhrkamp erschienenes Buch “Unverfügbarkeit” empfohlen, da es in aller Kürze einen guten Einstieg in seine Gedankenwelt bietet. Auf gerade einmal 131 Seiten entfaltet er eine großzügige Relektüre seiner eigenen Thesen und blickt vor allem auf seinen Resonanzbegriff zurück, den er auf unsere gegenwärtige Welterfahrung anwendet. Man könnte “Unverfügbarkeit” daher als einen Zweitaufguss verstehen, denn Rosa fasst seine Theorie der Resonanz immer wieder in kleinen Exkursen zusammen, aber zum Glück geht er auch darüber hinaus, sodass ich dieses Buch eher als eine Revision nach zwei Jahren beschreiben würde.

Das Buch beginnt mit einer klassischen Szene, die die These des Buches anschaulich, ggf. vielleicht zu anschaulich macht – ein Kind wird beschrieben, das versucht dem ersten Schnee durch beherztes Zugreifen habhaft zu werden. Die Schneeflocken zerrinnen in der Kinderhand und dieser Versuch der Weltaneignung ist gescheitert zu bezeichnen. So sei es mit allen unseren Versuchen, dem modernen Paradigma der Weltaneignung (Inbesitznahme) Folge zu leisten. Die Welt entzieht sich – sie ist unverfügbar.

Ein Schlüsselsatz Rosas, in dem er die von der Entfremdung ausgelösten „beziehungslose Beziehung“ der Menschen zur Welt beschreibt, lautet:

“Nach meiner Lesart besteht die Kulturleistung der Moderne gerade darin, dass sie die menschliche Fähigkeit, Welt auf Distanz und in manipulative Reichweite zu bringen, nahezu perfektioniert hat.” (Hartmut Rosa, UNVERFÜGBARKEIT, Frankfurt am Main, 2018, S.37)

Der Autor bringt darin seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Moderne nur so weit kommen konnte, weil sie auf der oben zitierten Fähigkeit basiert, Distanz und Nähe selbst justieren zu können. Der Art, wie die Moderne dies regelte, war immer ein Aggressionsmodus eingeschrieben, der sich heute als Filter zwischen alle Weltbeziehungen schiebt. Das ist laut Rosa ein Fehler, denn jede Weltbeziehung ist auch ein Resonanzverhältnis. Die Fähigkeit zur Resonanz, die Essenz – wie er sagt – des menschlichen Daseins.

Rosa skizziert ein Dilemma, denn wie, so fragt er, kann er die Resonanzfähigkeit begründete Weltbeziehung, die im Widerspruch zum Aggressionsmodus der Moderne steht, genauer bestimmen?

Für Roas ist Resonanz ein Bezieungsmodus, der durch vier definierbare Merkmale bestimmt werden kann. Das Moment der Berührung, das Moment der Selbstwirksamkeit, das Moment der Anverwandlung und das Moment der Unverfügbarkeit. Resonanz selbst ist ein Moment, der Unverfügbarkeit, denn sobald sie eintritt, verwandeln wir uns und wir können nicht vorhersehen, in welche Richtung diese Verwandlung uns verändert.

“Die transformierenden Effekte einer Resonanzbeziehung entziehen sich stets und unvermeidlich der Kontrolle der Planung der Subjekte, sie lassen sich weder berechnen noch beherrschen…” (Hartmut Rosa, UNVERFÜGBARKEIT, Frankfurt am Main, 2018, S.44)

Diese Ergebnisoffenheit entzieht sie jeder Logik und ist daher für Rosas Kritik der Verfügbarkeit so wichtig. Resonanz ist unspeicherbar, unplanbar, untrainierbar und jeder Versuch sie zu kultivieren oder gar zu erzwingen endet im Verlust. Wir können nicht einmal um sie kämpfen, denn jede Kampfbeziehung bedingt den Abschluss, eine “resonanzdämpfende Schließung“.

Das eigentliche Projekt Rosas ist jedoch “durch das geduldige Herausarbeiten der Spannungslinien zwischen Resonanzbegehren und Verfügbarkeitsverlangen Ideen dafür zu gewinnen, wie sich jener Widerspruch dereinst vielleicht überwinden oder lösen lässt”.

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