Down in Albion

Jetzt war ich schon so oft in England, wahrscheinlich kein Land der Erde, das ich schon so oft bereiste, und doch hab ich erst jetzt verstanden, wie scheiße da ja wirklich das Wetter ist. Im Grunde haben wir die ganze Zeit nur gefroren, während die Engländer in kurzen Hosen und Sandalen ihren Sommer genossen, es ist grotesk, man kann sich nicht verständigen, die einen fahren links auf der Straße, die anderen rechts. Der eine findet, 15 Grad und teuflischer Wind sei ein Sommer, der andere findet das nicht. Ich bin dieser andere. Beim Camping am Tannenbaum fror mir nachts buchstäblich der Arsch ab, diese vier Buchstaben, die für die mathematisch ganz korrekten Erbsenzähler ja eigentlich sogar fünf sind: ARSCH.

Peak District. Toll natürlich andererseits, so ein touristisch völlig unerschlossenes Terrain zu bereisen, als Fremder wird man automatisch begafft, ich sag drei Worte in meinem Deppenenglisch, sofort bin ich der Freak, der Deutsche, der Arbeitskollege eines Arbeitskollegen war auch schon mal in Deutschland gewesen, aha, so richtig Gesprächsstoff bietet das nicht, aber egal.

Mitten im Peak District, am River Derwent, hat sich vor Zeiten etwas Denkwürdiges ereignet: Man hat eine Maschine erfunden, die aus Baumwolle einen Faden spinnen konnte. Die Maschine wurde durch ein Mühlrad im Wasser angetrieben und spann den Faden hundertmal schneller als vormals die Finger von Menschen, vorzugsweise Frauen, an einem Spinnrad es vermochten. Diese Erfindung war notwendig geworden, da der automatische Webstuhl die Fäden schneller verweben konnte als die Frauen an ihren Spinnrädern den dafür notwendigen Faden produzieren konnten. Sir Richard Arkwright erfand die Fadenspinnmaschine, implementierte sie in die Mühle in Cromford und baute dann gleich noch eine zweite Mühle daneben, wo er die Fäden der einen Mühle direkt in die Webstühle der anderen Mühle einspeiste. All under one roof, wie die Frau im Fadenmuseum immer wieder betonte, die vor allem darauf bedacht schien, Sir Richards Lebensleistung hervorzuheben, während der Mann im Webstuhlmuseum, mit ölverschmierter Latzhose und Dreitagesbart selbst wie ein Relikt der Zwanziger- oder Dreißigerjahre erscheinend, immer wieder darauf zurückkam, dass dies hier, back in ´em days, weit entfernt von jeglicher Romantik war, in Sir Richards gottverdammter Fabrik zu arbeiten, war im Gegenteil der blanke Horror. Um dies zu demonstrieren, schaltete der Mann in der Latzhose einmal alle Webstühle im musealen Raum an, die Ohren flogen dir da weg, 12-Stunden-Schicht in diesem Höllenlärm und die meisten Arbeiter waren einfach Kinder, erzählte er. Eins sei mal beim Reinigen der Fadenspinnmaschine von derselben erfasst und getötet worden, da hätten eine Woche drauf die Eltern eine Rechnung erhalten, da wegen der Dummheit ihres nunmehr toten Kindes die Maschine drei Tage lang nicht hätte laufen können, bis man nicht endlich die ganzen Knochensplitter und sonstigen Leichenteile aus dem Gewerk der Zahnräder entfernt hatte. Those weren´t romantic times, I promise you, sagte der Mann in der Latzhose immer wieder, überhaupt immer wieder dieses: I promise you, das er an fast jeden zweiten Satz anhängte. Eigentlich war mir zum Weinen zumute, hier, an diesem historischen Ort, wo man den Beginn der industriellen Revolution verortet.

Ein paar Jahrzehnte später brauchte man kein Wasser mehr, um Räder zum Drehen zu bringen, man hatte die Dampfmaschine erfunden und produzierte diese Dinge dann lieber gleich in Liverpool oder Manchester, von wo man sie schneller auf ein Schiff schmeißen konnte, denke ich mir. Den River Derwent, dessen Wasserkraft so viele Fäden sponn und so viel Gewebe wob, brauchte plötzlich keiner mehr. Er plätschert heute noch vergessen vor sich hin.

Komplettes Gegenbild hierzu das Schloss Chatsworth, malerisch gelegen, schon bei der Anfahrt plötzlich Stau, weil Schafe seelenruhig die Straße passieren, linkerhand eine Hirschherde, die in grazilster Anmut losläuft, fast zu fliegen scheint dabei, alles wie ein Märchenbild von der völlig heilen Welt. Später kommentierte Rundfahrt mit dem Traktor über einen Bruchteil des Geländes, und ich kann es im Grunde gar nicht glauben, was der wundervolle Mann da voller Stolz erzählt: Dass nämlich sein Herzog, der Duke of Devonshire, nicht nur über diese stolzen Ländereien hier verfügt, sondern noch mehr Grundbesitz sein eigen nennt, in Irland, Schottland, Wales und London. Der Stammsitz mit seinen twelvehundred acres, immer wieder wiederholt er das Wort: twelvehundred acres, erscheint plötzlich nur als kleine Nebensächlichkeit, und alles ist einfach so wunderschön und plötzlich tauchen rechts nochmal die Hirsche auf und er sagt: Wie toll, dass wir sie heute zu Gesicht kriegen, sie dürfen sich nämlich frei bewegen auf diesen twelvehundred acres, manchmal sieht man sie tagelang nicht, und ich frage mich: Wie groß ist eigentlich so ein gottverdammter acre, und könnten diese Engländer vielleicht mal aufhören mit ihren Acres und Inches und Yards und Miles und dem scheiß Linksverkehr? Könnten die mal einmal bei irgendeiner Sache mitmachen?

Aber nein, die machen nicht mit, und für die ist es auch normal, dass so ein blöder Duke über so unglaublich viel Landbesitz verfügt und dann dem normalen Pöbel noch heftigst Eintritt abpresst, damit die auch mal ein bisschen die schöne Luft des Adels schnuppern dürfen für einen Tag. In Germany unthinkable, sagte ich immer wieder, aber ich sah in verständnislose Gesichter: Ist doch schön hier, hast du nicht die Hirsche gesehen?

All diese Widersprüche, die ich von dieser Reise mitnehme: dass hier zusammen mit dem automatischen Webstuhl und dem automatischen Spinnrad die Arbeiterklasse erfunden wurde und gleichzeitig der Adel mit den groteskesten Privilegien überleben konnte. Dass die Natur hier genau deswegen so überüppig grünt und blüht, weil das Wetter hier immer so scheiße ist: Regen im Sommer, Regen im Winter, nie zu heiß, nie zu kalt, und immer feucht. Dass man wirklich grauenhaft frühstückt, aber sehr gut zu Abend essen kann in diesem England.

Über Brexit redete kaum jemand. Wenn doch die Sprache drauf kam, war es allen sofort peinlich, alle schienen darauf bedacht, uns Deutschen gegenüber zu betonen, dass sie selber ja für Remain gestimmt hätten. Ein Brexit-Land voller Remainers, aber mir schien es bloß logisch, dass sie rausgehen. Ich liebe diese Menschen, ich liebe diese Landschaft, die Ales, die Pubs, die Schafe, die Kühe, die irre grünen Wiesen und die von Moos und Flechten bewachsenen Steinmauern. Aber die Engländer, wenn man mal ehrlich ist, haben noch nie bei irgendwas mitgemacht: Nicht beim Meter, nicht beim Liter, nicht beim Rechtsverkehr und nicht beim Euro. Es ist im Grunde fürchterlich, dieser wunderbaren Insel bei ihrer immer weiter sich isolierenden Isolation zuzuschauen.

Ich war froh, wieder zurück zu kommen, in mein innig verhasstes Deutschland. Als ich in Berlin aus dem Flugzeug rausstieg war mir fast, als wären es die Tropen, so warm und dampfig plötzlich. Später der heiße Regen, völlig verrückt nach dem englischen Frostwind.