Eine junge Frau, 28 Jahre alt, das Universitätsstudium noch nicht lange abgeschlossen, irgendwo in einem Tagungshaus in der Eifel, neben mir ein humorvoller Pfarrer, humorvoll genug, mich als Referentin für diese Runde einzuladen, denn uns gegenüber saß eine Gruppe etwa 70-jähriger alter, weißer Männer, die als engagierte Katholiken viel Zeit in wichtigen Ehrenämtern verbracht hatten und die dieses Ehrenamt hier auch wieder hin geführt hatte.
Einer der älteren Männer sprach unverblümt seine Gedanken aus und fragte: „Mädchen, glauben Sie im Ernst, sie könnten uns hier irgendetwas (Neues) sagen?“ vielleicht hat er mich auch geduzt, denn er behandelte mich wie eine unmündige Schülerin, aber so ganz genau erinnere ich mich nicht mehr.
In einem der Gärten, die ich von meinem Schreibplatz überblicke, flattert Wäsche auf der Leine. Der Anblick erinnert mich an meine Kindheit, besonders jetzt, wenn die Junisonne warm herunter strahlt.
Es erinnert mich an das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und das rund um unseren Garten mit ebenso einer Wäscheleine nur von Wiesen und Wäldern umgeben war. Damals.
Wiesen, auf denen Kühe weideten. Wiesen, auf denen man sich bis zum Dorf hinunter rollen lassen konnte. Wiesen, die ein hölzernes Drehkreuz im Zaun hatten, von den Bauern selbstgezimmert.
Mit herrlichen Sommern, wo der eine Wonnemonat den anderen ablöste. Wie gerade jetzt.
Und dabei ist es, wenn neue Monate anbrechen
… ein an und für sich vollkommen bescheidenes und geräuschloses Anbrechen, ohne Zeichen und Feuermale, ein stilles sich einschleichen also eigentlich, das der Aufmerksamkeit, wenn sie nicht strenger Ordnung hält, leicht entgeht. Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Donnergetöse beim Beginn eines neuen Monats.
Während frühere runde Geburtstage keine grössere Bedeutung für mich hatten, übt dieser nahende Zeitpunkt eine merkwürdige Wirkung aus.
Es ist eine Mischung aus einer neuen Freiheit und einer eingeschränkten Zukunft, körperlich und zeitlich gesehen.
Dazu passt die Lektüre des Zauberbergs und die seltsame Verdichtung der Zeit dort, die ich persönlich auch erlebe, wenn ich auf die vergangenen 60 Jahre zurückschaue und gleichzeitig überlege, dass der Zauberberg „erst“ 100 Jahre alt ist.
Wenn ich also im Einführungskapitel des Zauberbergs lese:
„Nicht jedem passiert jede Geschichte“
kann ich jetzt schmunzelnd auf die Jahre zurückblickend aus vollem Herzen sagen: Ja, das stimmt. Aber dazu ein anderes Mal.
Ich erlebe eine eigenartige Gleichzeitigkeit, wenn ich auf das Geschehen im Zauberberg schaue, das Themen zu Tage fördert, die uns heute noch in gleicher Aktualität begegnen.
Gleichzeitig sehe ich mich selbst, als junge Frau, den Zauberberg das erste Mal lesend und überhaupt nicht verstehend, welche komplexen Themen hier aufgegriffen werden. Eigentlich habe ich ihn damals als für junge Menschen uninteressant und in viel zu komplizierter, altdeutscher Sprache verfasst, abgetan.
„Eine Geschichte verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit.“
Walkingstöcke klappern über das Pflaster, darüber angestrengte Gesichter.
Ein junge Frau mit hochgestecktem braunen Haar bewegt sich mitten auf die Seebrücke. Sie holt ihr Smartphone aus der Tasche und filmt einmal rund herum.
Ein sanfter Ostwind weht. Die roten Bojen tanzen auf den Wellen.
Meergeruch steigt in die Nase.
Ein Auto des Kurbetriebs knattert vorbei.
10 Fahnen flattern im Wind.
Und dann plötzlich ein paar Minuten kein Mensch außer mir.
Auf dem Kirchplatz wurde ein Maibaum aufgestellt. Sonnenhungrige tummeln sich auf der Promenade. Alle Strandkörbe stehen bereit. Besonders Mutige gehen baden. Die Ostsee hat jetzt hier um die 8 Grad Celsius. Ein Schwanenpärchen brütet nahe des Leuchtturms. Die Polizei hat den Strandabschnitt dort für die kleine Familie abgesperrt.
Im Mai 2020 hatten es die Schwäne einfacher. Wegen der Pandemie gab es kaum Touristen. Autos mit „ausländischen“ Kennzeichen aus anderen Bundesländern hatten keine Einreiseerlaubnis. Selbst die Tagesgäste aus Hamburg nicht.
Dieser Song der Band Geier Sturzflug aus dem Jahr 1983 zeichnet ein düsteres Bild eines zukünftigen Europas.
Gleichzeitig gibt er uns aber auch das Gefühl der Einheit: unser Kontinent, die lieb gewordenen Urlaubsorte, der Flair, die Tradition, die Geschichte.
Seit dem Schengener Abkommen von 1985, mit dem die Grenzkontrollen entfielen, fühlen wir uns frei und verbunden. Wir können reisen, leben und arbeiten, wo wir wollen.
Das Dorf füllt sich mit Leben. In den für das Osterfeuer bereitgestellten Strandkörben halten die Menschen ihre Gesichter der Sonne entgegen.
Die Winter sind lang hier an der Küste.
Es stürmt viel. Es regnet. 3 Wochen lag tiefer Schnee.
Aber die Winter sind auch schön. Weite Strände ohne Strandkörbe. Die Hunde dürfen bis zum Wasser und tollen kreuz und quer durch den hellen Sand. Und das Meer präsentiert sich in seiner ganzen Vielfalt.
Mit Interesse las ich, dass die Journalistin Christiane Florin eine Fastenpredigt gehalten hat.
Ihr Buch „Weiberaufstand“ hatte ich 2017 verschlungen. #Frauen wie sie gaben mir damals immer noch Hoffnung, dass sich innerhalb des Systems „Kirche“ etwas ändern liesse.
Je älter ich werde, je mehr Erfahrungen ich mit und in der katholischen Kirche gesammelt habe, desto mehr fallen mir die Nadelstiche auf.
Die selbstverständlichen Benachteiligungen, die Ignoranz, die Arroganz, die sich als Demut tarnt, das Nicht-Ernstnehmen, nur weil das Gegenüber eine Frau ist.
Würde man so handeln und reden, weil dieses Gegenüber eine dunkle Hautfarbe hat, dann wäre man Rassist. Handelt und redet man so, weil das Gegenüber eine Frau ist, was ist man dann? Katholisch.