Der Tag beginnt mit einer Hunderunde. Während wir langsam durch die Straßen gehen und der Hund “seine Tageszeitung liest”, das heißt, er schnuppert stundenlang an einem Grashalm herum und erfährt so, was im Viertel los ist, denke ich über die Straßennamen nach.
Einer ist der Name eines Herrn, der das Ostseebad zusammen mit neun anderen Herren 1802 gründete, einer war ein Werftbesitzer, einer hatte Anteile am ehemaligen Casino. Keine Frauen.
Es hat in der Nacht geregnet. Wir springen zwischen Pfützen her. Irgendwann erreichen wir die Promenade. Die Lampen sind noch eingeschaltet, die Jahreszeit ist fortgeschritten.
Wir sind allein unter Möwen. Riesige Kindermöwen warten auf ihre Eltern, damit sie sie ernähren. Die beraten sich derweil am Strand über geeignete Strategien, die Ernährung sicher zu stellen.
Zum Morgentee fällt mir das Goethe Zitat in den Blick. Aus dem jungen Faust. Besser: Faust 1. Teil. Gleich erscheint das Gesicht der Lehrerin vor meinen Augen, die damals das Werk mit uns las. Sie war nicht meine Lieblingspädagogin.
Das Zitat hat etwas. Jeder Tag ist ja irgendwie ein neues Abenteuer. Ob gut oder schlecht.
Es ist noch kurz Zeit für Übungen am Piano-Keyboard. Heute ist wieder ‘The Boxer’, ein einfaches Puccini Stück und ‘I´m a believer’ an der Reihe. Letzteres setzt Energien frei.
Die Einheimischen sagen, dass sie während des Sommers entweder früh morgens oder spät abends an den Strand gehen.
Wer Ruhe und Beschaulichkeit mag, sollte hier im Moment tatsächlich am Vormittag unterwegs sein. In der Saison, die auch zum Dorf gehört, ist in den Straßen und Gängen viel los. Glaubt man im Frühjahr, wenn die Strandkörbe aufgestellt werden, nicht, dass sie jemals alle besetzt sein könnten, kann man sich im Sommer kaum vorstellen, dass es zu manchen Jahreszeiten anders ist.
Die Singvögel haben irgendwann im Juli ihre morgendlichen Konzerte eingestellt.
Der kleine Apfelbaum ist voller dunkelroter Früchte.
Die Temperatur fällt.
Plötzlich ist August!
Im Dorf sind an mehreren Stellen Klönschnack-Bänke eingerichtet worden. Auf den ersten Blick sieht die Beschriftung wie eine Bankwerbung aus. Eine niedrigschwellige Strategie gegen Einsamkeit, ein Exportschlager aus Baden-Württemberg. Ich bin neugierig, wie das Angebot angenommen wird.
In einem der Gärten, die ich von meinem Schreibplatz überblicke, flattert Wäsche auf der Leine. Der Anblick erinnert mich an meine Kindheit, besonders jetzt, wenn die Junisonne warm herunter strahlt.
Es erinnert mich an das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und das rund um unseren Garten mit ebenso einer Wäscheleine nur von Wiesen und Wäldern umgeben war. Damals.
Wiesen, auf denen Kühe weideten. Wiesen, auf denen man sich bis zum Dorf hinunter rollen lassen konnte. Wiesen, die ein hölzernes Drehkreuz im Zaun hatten, von den Bauern selbstgezimmert.
Mit herrlichen Sommern, wo der eine Wonnemonat den anderen ablöste. Wie gerade jetzt.
Und dabei ist es, wenn neue Monate anbrechen
… ein an und für sich vollkommen bescheidenes und geräuschloses Anbrechen, ohne Zeichen und Feuermale, ein stilles sich einschleichen also eigentlich, das der Aufmerksamkeit, wenn sie nicht strenger Ordnung hält, leicht entgeht. Die Zeit hat in Wirklichkeit keine Einschnitte, es gibt kein Gewitter oder Donnergetöse beim Beginn eines neuen Monats.
Walkingstöcke klappern über das Pflaster, darüber angestrengte Gesichter.
Ein junge Frau mit hochgestecktem braunen Haar bewegt sich mitten auf die Seebrücke. Sie holt ihr Smartphone aus der Tasche und filmt einmal rund herum.
Ein sanfter Ostwind weht. Die roten Bojen tanzen auf den Wellen.
Meergeruch steigt in die Nase.
Ein Auto des Kurbetriebs knattert vorbei.
10 Fahnen flattern im Wind.
Und dann plötzlich ein paar Minuten kein Mensch außer mir.