Dysnomia

anomic aphasia anonymous

von Konrad

Er braucht sie nicht zu suchen. Er findet sie. Möglichkeiten, poröse Stellen, Durchgänge. Dann schlägt er zu.

Noah legt seine Kleidung auf die Bank vor den Spinden. Er betritt den Duschraum. Das Klima ist erdrückend. Die Luftfeuchtigkeit und Temperatur sind ähnlich wie die in einer Aufgusssauna. Es riecht nach fruchtigem Duschgel, Körperlotion und Haarspray. Die Melange einer kürzlich verlassenen Mädchendusche. Jetzt ist er allein. Noah lächelt ein dünnes Lächeln. Wieder einmal hat sein, zugegeben wirklich simpler, Plan funktioniert.

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von Steffen

Ein sanftes Vibrieren im Handgelenk weckt ihn aus traumlosem Schlaf. Zwei Minuten früher als gestern, der Ablauf wurde wieder optimiert. Wie in Zeitlupe und noch halb betäubt löst er sich aus der polymerharten Z-Form. Sofort reibt und massiert er die Dermalkontakte an seinem Rücken. Er hasst das ewige Jucken, die ständig wieder aufflammenden Entzündungen. Im anderen Raum der Wohneinheit verraten ein karibischer Sonnenaufgang und im Wind wiegende Palmen im flimmernden Display-Fenster dass heute Mittwoch ist und Sommer. Er kaut zwei antibiotische Cracker zusammen mit der Startup Pille und spült mit destilliertem Wasser nach. Obwohl er sicher ist dass er seit langem immun gegen den Wirkstoff ist, ist da immer der Horror der Abstoßung, der venalen Korrosion und des langsamen Verblutens durch die Poren der Haut.

Außerdem will er sich keinesfalls mit einem gehorteten Cracker-Vorrat erwischen lassen. Sozialsabotage, automatisch bestraft mit fünf Jahren Ehrendienst in den äußeren Kolonien. Er weiß, dass sein erneuter Aufenthalt dort den sicheren Tod bedeuten würde. Vermutlich würde sein Körper nicht einmal den Transfer, die Kälte und die Entbehrungen des Vakuums überstehen. Er schlüpft in die beengte Uniform, rückt die Reihe bunter Orden zurecht. Im Etagenflur zitronengelber Kunststoff und feiner Desinfektionsnebel aus unsichtbaren Zerstäubern. Sanfte Beleuchtung und geflüsterte Durchsagen von sanften, jungen, gesunden Stimmen. Ankündigungen, neue Verordnungen, der Wetterbericht und dazwischen periodisch und mechanisch die zufallsgenerierten Zahlenreihen der über Nacht Desynchronisierten.

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von Konrad

Du schließt die Haustür hinter dem freundlichen alten Mann zu und atmest tief durch. Endlich allein. Du läufst durch die kleine Wohnung im Erdgeschoss. Hohe Räume, große Fenster, durch die das goldene Sonnenlicht scheint. Dielenboden, wo keine weichen Teppiche liegen. Holzmöbel, wenig Deko und wenn, dann an den passenden Stellen und geschmackvoll.

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von Konrad

Seine Arme umkrampfen die eigenen Beine. Leichtes Wippen in Hockstellung. Nackt. Das warme Wasser fließt viel zu langsam. Bedeckt erst knapp seinen Penis. Besser, die Wanne wäre schon voll. Besser, der vielleicht einzige Schutz wäre stark, vorhanden, zuverlässig. Aber das Wasser fließt langsam. Plätschert statt zu rauschen. Vorhersehbar. Jeder versucht, seine Wanne so heiß und so voll zu bekommen, wie es nur geht an diesem Abend. In dieser Nacht, der Nacht der Schwärze.

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von Steffen

Am Anfang war nicht das Wort, sondern der Akt als Schöpfung durch ein schlichtes Sagen. Als Sprechakt und Autopoiesis, dem Erzeugen durch sich selbst und aus sich selbst heraus. Wir alle, so könnte man meinen, sind wenig mehr als die physischen Fortsetzungen und psychosoziale Brechungen jenes primären Akts, von wem oder was auch immer er ausging. Einerseits als die biologischen Akteure seiner Wiederholung im Fortpflanzungsakt als sympoietischem Mit-etwas-machen oder, schlichter ausgedrückt, des Miteinandermachens. Dennoch verweist die Geburt—als genetisch “befleckte” Mimesis des In-die-Welt-bringens durch die Sprache selbst—im “Urschrei” von Mutter und Kind sowohl auf Sprache als Entstehungsakt des Verstands als auch auf die Schmerzhaftigkeit und das Ausgeliefertsein während jedes schöpferischen Akts.

Die Menschwerdung—das gewollte oder ungewollte, aber doch unumgängliche Heideggersche Geworfensein in die Welt—eröffnet eine weitere Ebene dieser handlungsgeschichtlichen Exegese. Einerseits im Spannungsfeld des neugeborenen Kindes zwischen absoluter Hilflosigkeit und zukünftiger (jedenfalls theoretisch) unbeschränkter Handlungsmacht. Andererseits verweist die Entstehung des unbedarften, unwissenden und unschuldigen auf eine räumliche sowie moralische Dimension des Seins. Kulturell liegt diese im allegorischen Raum des Paradieses als “Vorort” zum Sündenakt, der nur den unschuldig (und damit paradoxerweise unmenschlich) Agierenden offen steht.

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von Steffen

Unhörbare Radio-Hits schallen aus den stoßfesten Lautsprechern der Handwerker im Erdgeschoss gegenüber der Straße. Sie bohren, hämmern, schleifen, meißeln, schrauben, schaben, schaufeln, waschen sich die Hände und legen sich nieder um es dann noch einmal tun zu können. Nur so kann alles werden, die Substanz des Zivilen muss jeden Tag verteidigt, bestätigt und ausgebaut werden. Fortschritt, so könnte man fast meinen, ist die humanste Form des Krieges aus dem es keinen Ausweg gibt, denn Stillstand ist zu nah am heute geläufigen Verständnis des Totseins. Doch wer steht uns als Feind gegenüber in diesem unsichtbaren Kampf?

Mit dieser Frage und mit diesem Totsein sieht sich der auf einer scheinbar unbewohnten Insel gestrandete Robinson Crusoe konfrontiert. Die tropische Insel, Teil eines winzigen Atolls vor der Küste Venezuelas, ist die Antithese zum westlichen Fortschrittsglauben und der Inbegriff zeitloser und statischer Primitivität. Nachdem er Werkzeuge, Nahrung, Waffen und andere nützliche Gegenstände aus dem in der Brandung liegenden Schiff geborgen hat, beginnt er umgehend mit der Errichtung von Gebäuden, Schutzwällen sowie der Urbarmachung des Bodens und Domestizierung von wilden Ziegen und anderen Tieren. Dass es schließlich Jahre und Jahrzehnte dauert diese solitäre Zivilisation aufzubauen, ist dabei kein Hindernis sondern ein glücklicher Umstand für den Schiffbrüchigen. Es ist Defoes Parabel auf die Kraft des Einzelnen in der Überwindung von Mühsal und Not, die Notwendigkeit des Fortschritts und die Früchte von Kapital und Arbeit—alles zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans im Jahr 1719 relativ neue Konzepte.

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von Steffen

war das ein traum, die spritze, die ewig lange fahrt? die erinnerung ein dunkler flur, vertrocknete ranken, die maske ist zerrissen

gibt es ein noch größeres unglück als das gesuchte zu finden? ein verstohlener blick hinter die schatten des vorhangs

durch milchige fenster ein kaleidoskop aus grauen straßen dächer und giebel, wolken und ein himmel

der mir egal ist und dem ich noch egaler bin zum kümmern zu fern zum ignorieren zu nah

gewickelt in decken und starrend zur decke kälte umschließt mich vertraut mit ihren rauen händen

im blinden spiegel betrachte ich die fiebrige kontur von uns zu zweit beim zähneputzen

kichernd und neckend mit schäumenden mündern unverständliches in unsere ohren nuschelnd

doch irgendwie begreifend dass was wir sagen weniger wichtig ist

als dass wir im selben rahmen stehen und uns zu zweit dort stehen sehen

in alten t-shirts mit seltsamen drucken umrahmt von außen von dingen und räumen

entgrenzt von innen denn wissend dass unsere träume und wünsche und ängste und schwächen

enthalten sind und verstanden sind und endlich aufgelöst sind in diesem moment an einem ganz normalen abend

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von Konrad

„Mein lieber Theo“, sagte der Professor zu seinem jungen Assistenten, „endlich ist der Zeitpunkt gekommen, an dem unsere jahrelange Forschung zur Möglichkeit eines Körpertausches in ihrem finalen und riskantesten Test mündet. Mach dich also bereit!“ Damit legte er den letzten Schalter des großen Versuchsaufbaus um. „Erstaunlich“, bemerkte er ein paar Minuten später und begann sofort damit, die Geräte im Labor mit einem Hammer zu zertrümmern.

von Konrad

Unbequem sitze ich im Getöse. Das tiefe Dröhnen ist laut. Zu laut, um es wirklich hören zu können. Zu laut zum sprechen, zu laut, um einen klaren Gedanken zu fassen. Mit jeder Minute bemächtigt es sich meiner mehr. Meine Augen sind gereizt. Angestrengt, unfokussiert. Die Scheiben dreckig, Winterschmutz vieler Monate. Dunkelgrau, gemustert, schwarz meliert. Das letzte bisschen Sonnenlicht. Kalt. Vom Draußen bleiben nur Facetten. In Fetzen erkenne ich. Meine Frau, meine Kinder, Freunde und Kollegen. Besorgte Minen, fragende Gesichter. Ich verstehe sie nicht. Kann nicht entkommen, nicht zu ihnen gelangen. Sie ziehen vorbei. Die Fahrt stoppt nicht. Immer weiter, unaufhaltsam, auf die Nacht zu.

von Konrad

Regen. Er hat es letztendlich geschafft. Der graue, kalte Regen, der unaufhörlich prasselt, klopft und rumort. Er lässt mich nicht denken, nicht fühlen, entspannen, frei sein. Der Regen kam am Tag, in der Mittagssonne. Heimlich. Am Anfang war er schwach, kaum ein Nieseln, das ich noch wegwischen konnte. Doch langsam nahm er sich mehr. In jeden Gedanken stahl er sich, säte seine dunkle, kalte Saat, verschleierte die Sicht. Beständig und ohne Hast. Das Nieseln wurde zum Tröpfeln, zum unaufhörlichen Gewitterschauer. Ich sehe den wolkenverhangenen Himmel, spüre die Kälte, die vom Regen aus meinem Kopf langsam in meine Gelenke und Knochen zieht, schmerzt und lähmt. Die mich taub und blind macht. Schon lange sehe nichts anderes mehr als tristes Grau. Der Regen lässt es nicht zu. Ich sehe den zerblasenen Himmel und gebrochene Menschen. Zerfurchte Mauerreste, bedeckt von schwarzen, leblosen Vögeln. In der Welt des Regens gibt es keine Schönheit. Die Farben hat er schon lange ausgewaschen, das wärmende Feuer zischend erstickt. Regen tränt aus meinen Augen. Stück für Stück reißt er die letzten fühlenden Fetzen ins eiskalte Dunkel. Ich habe Angst, denn wenn der letzte Funken in mir verlischt, werde ich im Regen ertrinken.